(Neu: Beschluss des EU-Parlaments: Ungarn keine vollwertige Demokratie mehr (2. und vorletzter Absatz))

BRÜSSEL (dpa-AFX) - Ungarn droht wegen weit verbreiteter Korruption in dem Land und anderer Verstöße gegen den Rechtsstaat die Kürzung von EU-Mitteln in Milliardenhöhe. Einen entsprechenden Vorschlag an die Mitgliedstaaten könnte die EU-Kommission von Ursula von der Leyen am Sonntag beschließen, wie die Deutsche Presse-Agentur in Brüssel aus EU-Kreisen erfuhr. Es wäre das erste Mal, dass die Behörde wegen rechtsstaatlicher Verstöße die Kürzung von EU-Mitteln vorschlägt.

Allerdings besteht noch immer die Möglichkeit für einen Kompromiss mit Budapest. Im Europaparlament, das Ungarn in einem Beschluss vom Donnerstag absprach, noch eine vollwertige Demokratie zu sein, wird deshalb befürchtet, dass das Geld letztlich doch fließen wird. Dabei betonte Kommissionschefin Ursula von der Leyen noch am Mittwoch, entschieden gegen Korruption vorgehen zu wollen. Dabei erwähnte sie auch den Rechtsstaatsmechanismus, der den Missbrauch von Geld aus dem EU-Haushalt verhindern soll. Ungarn ist bislang das einzige Land, gegen das ein Verfahren nach dem Mechanismus läuft.

Die EU-Kommission bemängelt schon lange weit verbreitete Korruption in dem seit zwölf Jahren von Ministerpräsident Viktor Ungarn regierten Land. In einem Bericht vom Juli ist die Rede von "einem Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden". In einem anderen Dokument der Behörde werden vor allem Defizite in der öffentlichen Auftragsvergabe kritisiert. Es gebe "schwerwiegende systembedingte Unregelmäßigkeiten, Mängel und Schwachstellen in den öffentlichen Vergabeverfahren". Es folgt eine lange Liste weiterer Mängel.

Weil die EU-Kommission dadurch die Gefahr sieht, dass EU-Geld missbraucht wird, löste sie schon im April den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn aus. Der Vorschlag, Geld zu kürzen, wäre der nächste Schritt in dem Verfahren.

Aus dem Dokument der EU-Kommission geht hervor, dass die Behörde den EU-Staaten vorschlagen könnte, bis zu 70 Prozent aus mehreren Programmen der Strukturfonds zur Förderung benachteiligter Regionen einzubehalten. Berechnungen des Grünen-Europaabgeordneten Daniel Freund zufolge könnten das rund sieben Milliarden Euro sein. Aus EU-Kreisen hieß es, die Zahlen könnten sich noch ändern.

Zudem werde die Behörde Sonntag Empfehlungen beschließen, wie die Missstände in Ungarn behoben werden könnten, hieß es. Sollte Ungarn alle Empfehlungen umsetzen, könnte es sein, dass das Geld gar nicht erst eingefroren wird.

Die ungarische Regierung hatte zuletzt erstmals seit langem etwas Bewegung im Streit mit Brüssel erkennen lassen. In den vergangenen Wochen stellte sie mehrere Maßnahmen in Aussicht, die die EU-Kommission beschwichtigen sollen. Unter anderen will Budapest eine neue Anti-Korruptions-Behörde schaffen, die Zahl der öffentlichen Ausschreibungen mit nur einem einzigen Anbieter deutlich einschränken und das parlamentarische Durchwinken von oft wichtigen Gesetzen im 24-Stunden-Eilverfahren beenden.

Der zuständige ressortfreie Minister Tibor Navracsics erklärte am Mittwochabend in einem Fernseh-Interview, dass der Gesetzesentwurf für die Anti-Korruptions-Behörde bereits zu Beginn der kommenden Woche ins Parlament eingebracht werden soll. Die Leiter dieser Behörde sollen demnach im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen bestellt werden. Die Bestellungskommission werde mit internationalen, fachlich anerkannten Experten besetzt, das Verfahren in Abstimmung mit Brüssel durchgeführt. Das Mandat der Behörde, ihre Kompetenzen und Rechte bleiben öffentlich aber weiter unklar. Ungarische Anti-Korruptions-Aktivisten warnen davor, dass die Orban-Regierung die Brüsseler Instanzen hinters Licht führen könnte.

Diese Befürchtung hat auch der Grünen-Politiker Freund. "Wir bezweifeln, dass die Liste der vereinbarten Änderungen all das beheben kann, was in Ungarn kaputt ist", sagte er am Donnerstag. Sein FDP-Kollege Moritz Körner warnte vor einem "großen Fehler". Wie groß die Sorge angesichts der Lage in Ungarn ist, zeigt auch ein Beschluss des Europaparlaments. Mit großer Mehrheit stimmten die Abgeordneten am Donnerstag für einen Bericht, nach dem Ungarn keine vollwertige Demokratie mehr ist. Die Zustände in dem Land hätten sich so sehr verschlechtert, dass es zu einer "Wahlautokratie" geworden sei, hieß es. Die Rede war von "einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn".

Die Entscheidung darüber, Milliarden für Ungarn aus dem EU-Haushalt einzufrieren, treffen letztlich die EU-Staaten. Sie haben nach der Empfehlung der EU-Kommission bis zu drei Monate Zeit für den Beschluss, dem mindestens 15 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen müssten./wim/DP/ngu

Quelle: dpa-AFX