Zeitenwende auch im Umgang mit China: Beim «Antrittsbesuch» von Kanzler Olaf Scholz am Freitag in Peking unterschreibt die deutsche Wirtschaft keine Milliardenverträge. Ganz im Gegenteil. Heute dreht sich alles darum, wie die Abhängigkeit von der inzwischen zweitgrößten Volkswirtschaft verringert werden kann.

Es gibt einen radikalen Wandel, wie die Wirtschaftsbeziehungen zu China bewertet werden. Seit der Ukraine-Konflikt die Abhängigkeit von Energie aus Russland allzu schmerzhaft verdeutlicht hat, will sich Deutschland im Umgang mit China nicht ähnlich erpressbar machen.

Der Streit um die Beteiligung des chinesischen Logistikriesen Cosco an einem Hamburger Hafenterminal zeigt die neuen Empfindsamkeiten. Der Deal war schon vor mehr als einem Jahr vereinbart worden, ohne dass jemand erkennbar Notiz genommen hätte. Mit Wladimir Putins Angriffskrieg hat sich das schlagartig geändert. Man habe gelernt, argumentiert Wirtschaftsminister Robert Habeck, «dass Abhängigkeiten von Ländern, die dann möglicherweise ihre eigenen Interessen in diese Abhängigkeiten hineinspielen, also uns dann erpressen wollen, nicht mehr nur ein abstraktes Phänomen sind.» Und der Vizekanzler fügt hinzu: «Wir sollten diese Fehler nicht wiederholen.»

Enge Verflechtungen

Aber wie groß ist die deutsche Abhängigkeit von China? Ob Handel, Lieferketten oder Riesenmarkt: «In allen drei Bereichen ist die Verflechtung zwischen China und Deutschland stark ausgeprägt», sagt das Geschäftsführende Vorstandsmitglied der deutschen Handelskammer (AHK) in Peking, Jens Hildebrandt. Auch bei strategisch bedeutsamen Produkten wie Lithium Batterien oder Rohstoffen wie Seltene Erden «besteht eine starke Importabhängigkeit». Der Corona-Lockdown in Shanghai im Frühjahr, der Lieferketten weltweit empfindlich gestört hatte, hat auch deutlich gemacht, wie stark die deutsche Wirtschaft auf Vor- und Zwischenprodukte aus China angewiesen ist.

Rund 5000 deutsche Unternehmen sind heute in China tätig. 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen laut Handelskammer vom China-Geschäft ab. «Der chinesische Markt ist für viele deutsche Firmen von überragender Bedeutung, und zwar als Absatz- und als Wachstumsmarkt», sagt Hildebrandt. Das gelte insbesondere für deutsche Autobauer und Chemie-Hersteller. «Was gerne übersehen wird, ist die Rolle Chinas als Innovationstreiber», hebt der AHK-Manager auch hervor. «Deutsche Unternehmen entwickeln und testen in China neueste Technologien für den globalen Markt.»

Bislang folgte der Handel anderem Leitbild

Fällt nach Russland nun aber das wirtschaftlich ungleich mächtigere China ähnlich in Ungnade? «Bislang beruhte die deutsche Außenwirtschaftspolitik primär auf dem Leitbild, dass Handel und grenzüberschreitende Investitionen willkommen sind, weil sie allen Beteiligten nutzen», schrieb der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, in der «Wirtschaftswoche». «Danach ist steigender Wohlstand in China auch gut für Deutschland und Europa, denn er steigert die Exportchancen für deutsche Produkte.»

Auch könnten chinesische Investitionen in Deutschland hierzulande Wachstum und Beschäftigung fördern, meinte Fuest. Die Handelsbeziehungen zu China nun zu kappen, wäre aus seiner Sicht indes voreilig. Aus seiner Sicht geht es vielmehr darum, kritische Abhängigkeiten zu begrenzen, die Deutschland im Krisenfall erpressbar machen. «Es ist aber ebenso geboten, die immensen Vorteile internationaler Arbeitsteilung weiterhin umfassend zu nutzen.»

Kritisch könnten einer Studie der EU-Kommission eine Vielzahl von Rohstoffen werden, die für nahezu alle wichtigen Zukunftstechnologien gebraucht werden, unter anderem für Solar- und Windenergie. «Auf dem Weg zur Unabhängigkeit von russischen Energieträgern könnte Deutschland sich also in neue Abhängigkeiten zu China begeben», schreiben daher die Ökonomin Melinda Fremerey und ihr Kollege Thomas Obst vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Ungleiche Abhängigkeit

Derweil ist die deutsche Wirtschaft sehr viel abhängiger von China als umgekehrt. Auch hätten sich die Verflechtungen im ersten Halbjahr 2022 «mit einem enormen Tempo in die falsche Richtung entwickelt», urteilt der IW-Ökonom Jürgen Matthes in einer Studie. «Die deutschen Direktinvestitionsflüsse nach China waren noch nie so hoch.» Auch die Importe aus China und das deutsche Defizit im Handel erreichten ein Allzeithoch. Dagegen schwächte sich das Wachstum der deutschen Ausfuhren nach China stark ab. Chinas Exportanteil sank erneut. Seine Interpretation: «Der chinesische Markt soll offenbar immer mehr durch Produktion vor Ort statt durch Exporte bedient werden.»

In Zahlen: Mit 71,8 Milliarden Euro oder 7,0 Prozent aller Ausfuhren ist China laut Statistisches Bundesamt in den ersten acht Monaten 2022 auf Platz vier der wichtigsten Empfängerländer abgerutscht - hinter die USA, Frankreich und die Niederlande. Mit 125,7 Milliarden Euro oder 12,8 Prozent aller Einfuhren ist China indes mehr denn je der wichtigste Lieferant Deutschlands. «Das Ungleichgewicht im Handel mit China nimmt also immer mehr zu», so lautet das Fazit von Matthes.

«Es deutet vieles darauf hin, dass das Gewinnstreben der deutschen Firmen ohne einen staatlichen Eingriff weiterhin zu mehr und nicht zu weniger China bei Direktinvestitionen und Importen führt», schreibt Matthes. «Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China als Absatzmarkt und Lieferant steigt damit immer weiter.» Das Gegenteil wäre jedoch wegen der zunehmenden geopolitischen Spannungen nötig - auch angesichts der Drohungen Chinas mit einer Eroberung Taiwans. Ein solcher Angriff könnte in einen Krieg mit den USA münden und wie mit Russland zu massiven Wirtschaftssanktionen führen.

Eine völlige Entkopplung wäre für deutsche Unternehmen in China aber das schlimmste Fall, der auch für deutsche Verbraucher schmerzhaft würde. «Durch die enge Verflechtung deutscher Unternehmen in chinesische Lieferketten würde sich eine wirtschaftliche Abkopplung auf die ganze deutsche Wirtschaft negativ auswirken», warnt AHK-Chef Hildebrandt. «Volkswirtschaftlich gesehen würde eine Abkopplung mit erheblichen Wohlstandsverlusten einhergehen.» Doch hätten deutsche Unternehmen in China bereits reagiert, indem sie verstärkt lokalisieren oder im ostasiatischen Raum diversifizieren. «Mit diesen Schritten streuen Unternehmen ihr Risiko», sagte Hildebrandt. «In Summe sollte dies zu einer Verringerung der Abhängigkeit führen.»

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