GENF/PORT-AU-PRINCE (dpa-AFX) - Im Karibikstaat Haiti erleben nach einer neuen Einschätzung des Welternährungsprogramms (WFP) erstmals 19 000 Menschen Hungersnot. Die Menschen hätten zumeist höchstens noch eine Mahlzeit pro Tag und kaum nahrhaftes Essen zur Verfügung, sagte Jean-Martin Bauer, WFP-Vertreter in Haiti, am Freitag in einer Video-Konferenz mit Journalisten in Genf. Es sei das erste Mal in der gesamten Region Nord-, Mittel- und Südamerika, dass Menschen dort in so katastrophaler Lage seien.

Bauer betonte, dass das WFP damit nicht eine Hungersnot für Haiti ausrufe. So eine Deklaration betreffe in der Regel größere Gebiete. In Haiti sei eine begrenzte Zahl von Menschen im Armenviertel Cité Soleil in der Hauptstadt Port-au-Prince betroffen. Wegen der Bandenkriminalität könne das WFP sie nicht versorgen.

Das WFP arbeitet mit fünf Stufen der Ernährungssicherheit. Stufe 1 (IPC 1) heißt, die Menschen haben genug nahrhafte Nahrungsmittel zur Verfügung, Stufe 5 bedeutet nach der deutschsprachigen WFP-Klassifizierung Hungersnot. "Sie bedeutet, dass der Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen Grundbedürfnissen völlig fehlt", wie das WFP erläutert. Für die 19 000 Menschen gilt Stufe 5.

Der bitterarme Staat erlebe hohe Inflation, explodierende Treibstoffpreise, Unruhen und Bandenkriminalität. Ein Warenkorb mit Nahrungsmitteln sei heute 63 Prozent teurer als vor einem Jahr, sagte Bauer. Von den rund elf Millionen Einwohnern drohe 4,7 Millionen akut Hunger. Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef sind in Haiti mindestens 100 000 Kinder unter fünf Jahren schwer unterernährt. Für diese geschwächten Kleinen sei eine Ansteckung mit der grassierenden Cholera "praktisch ein Todesurteil", sagte ein Unicef-Sprecher. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben die Behörden bis Donnerstag 357 Verdachtsfälle auf Cholera und mehr als zwei Dutzend Todesfälle gemeldet. Die wahre Zahl liege wahrscheinlich höher./oe/DP/ngu