LONDON (dpa-AFX) - Für Generationen war es ein Klassiker: Mit Schulfreunden vom Londoner Big Ben zum Buckingham-Palast laufen, zwischendurch ein Foto mit einer roten Telefonzelle und das Klassenzimmer-Englisch zum ersten Mal im echten Leben ausprobieren. Für Klassenfahrten und Sprachreisen deutscher Schulen ins Ausland, aber auch für Studierende, war Großbritannien eines der beliebtesten Ziele überhaupt - bis zum Brexit.
Glaubt man den Ergebnissen einer Umfrage des Branchenverbandes Tourism Alliance unter gut 80 europäischen Anbietern solcher Reisen, sind 2022 bis Ende des Sommers 83 Prozent weniger Schülerinnen und Schüler aus Europa nach Großbritannien gereist als noch 2019 - also vor Brexit und Pandemie. Bis August brachten die Anbieter lediglich gut 37 000 Schülerinnen und Schüler ins Vereinigte Königreich, um ihr Englisch zu verbessern, Land und Kultur kennenzulernen und Freundschaften zu knüpfen. Das ist ein massiver Einbruch: 2019 waren es noch rund 306 000.
Auch bei vielen Studierenden war die britische Insel lange ein begehrtes Ziel. Doch nach dem Brexit ist für Studierende aus der EU nun durch neue Visa-Bestimmungen mehr Aufwand nötig. Zudem dürfen britische Universitäten von EU-Bürgern nun höhere Studiengebühren verlangen. Die Zahl der EU-Studienanfänger in Großbritannien ist laut Zahlen der zentralen Vergabestelle UCAS (Universities & Colleges Admissions Service) 2022 erneut gesunken. Zum Start des akademischen Jahres wurden im Herbst 10 910 angehende Studierende aus der EU zugelassen. 2021 waren es noch 12 670. Im Jahr 2020, als noch die alten Regeln galten, waren es noch mehr als doppelt so viele.
Bei kurzfristigen Aufenthalten wie Schulreisen hat der enorme Einbruch vor allem einen praktischen Grund: Betreuer können mit den Schülern nicht mehr wie bisher als Gruppe einreisen, indem sie eine Liste mit Daten der Mitreisenden vorliegen. Nach dem Brexit ist dieses "List of Travellers"-Prinzip abgeschafft worden. Stattdessen müssen nun alle Schüler einzeln einen Reisepass vorlegen.
"Viele Schulkinder haben aber gar keine Reisepässe", sagt Richard Toomer, Chef der Tourism Alliance, der Deutschen Presse-Agentur. Außerdem müssten teils Visa beantragt werden - etwa für Schüler anderer Staatsbürgerschaften ohne Anrecht auf einen EU-Reisepass. "Die Hürden werden unüberwindbar", fasst Toomer zusammen. "Der Einfluss des Brexits ist absolut dramatisch." Er bedauert dabei vor allem den Verlust der Kontakte, die Schülerinnen und Schüler auf den Reisen üblicherweise haben. "Nicht nur kommen sie immer wieder, sondern tragen auch ihre Erfahrungen in den britischen Regionen zurück in die Heimat."
Während es für viele Schulklassen gemäß dem Hit der britischen Band The Clash "London Calling" (deutsch: "London ruft") hieß, ist bei Sprachreisen besonders die englische Südküste beliebt. Für Städte wie Brighton, Hastings oder Bournemouth sind die Fahrten ein elementarer Wirtschaftsfaktor. Nicht nur die Sprachschulen selbst, auch Unterkünfte, Gastronomie und andere Bereiche haben jahrzehntelang davon profitiert. "Dieser Sektor hat einen heftigen Schlag abbekommen", sagt Toomer. Seinem Verband zufolge hängen rund 17 000 Jobs an der Branche. "Das ist ein Problem, das gelöst werden muss."
Der Fachverband Deutscher Sprachschulen und Sprachreise-Veranstalter kann den Einbruch bestätigen. "Die Branche ist ganz schön gebeutelt", sagt Geschäftsführerin Julia Richter der dpa. Nur ganz vereinzelt habe es 2022 solche Fahrten gegeben. Das habe neben dem Brexit allerdings auch an der unsicheren Corona-Lage im vergangenen Winter und Frühjahr gelegen, in der noch Einschränkungen galten und das langfristige Planen fast unmöglich war.
Wie die britischen Anbieter sieht aber auch der deutsche Verband in den verschärften Einreisebestimmungen die größte Hürde. Dass alle Schüler einen Reisepass oder manche sogar ein Visum bräuchten, mache Teilhabe für alle deutlich schwerer, betont Richter. "Das braucht alles Vorlauf und verursacht zusätzliche Kosten. Viele Schulen oder Lehrer, die Klassenfahrten organisieren, schreckt das ab."
Stattdessen Fahrten nach Irland oder Malta zu unternehmen, bringt andere Hürden mit sich. Diese Ziele seien weniger leicht mit Zug oder Bus zu erreichen und damit längst nicht so kostengünstig und nachhaltig wie Fahrten nach Großbritannien - was für viele eine wichtige Rolle spiele, so der Verband. "Zu Südengland gibt es kaum eine günstige und nachhaltige Alternative."
Die britische Regierung scheint - zumindest, was die Einreiseregeln angeht - keine Änderungen zu planen. "Wir erkennen die Wichtigkeit des Austausches zwischen Großbritannien und anderen Ländern an", heißt es auf Anfrage aus dem Innenministerium. "Die britischen Einreiseregeln gehören bereits zu den großzügigsten der Welt."
In der Branche rechnet man daher nicht mit einer baldigen Erholung: Für 2023 erwarten die von der Tourism Alliance befragten Anbieter noch immer 60 Prozent weniger Schülergruppen als noch vor Brexit und Pandemie. Für Irland hingegen rechnet man wieder mit annähernd so viel Schulreisen wie zuvor./swe/DP/he