BERLIN (dpa-AFX) - Wenn eine größere Operation nötig wird, geht man ins Krankenhaus - oder? Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, dringt auf mehr Möglichkeiten für Eingriffe auch in Praxen ohne extra Klinik-Übernachtung. Nötig sei "eine Kehrtwende", sagte er der "Bild" (Montag). "Es gibt unverändert viel zu viele stationäre Behandlungen in Deutschland." Von insgesamt rund 16 Millionen Klinikbehandlungen im Jahr könnten bis zu vier Millionen ambulant erbracht werden, also auch von niedergelassenen Ärzten. Von Patientenschützern und Krankenhäusern kam Kritik an dem Vorstoß. Mehr "Tagesbehandlungen" in Kliniken stehen bereits im Blick der Politik.

Gassen nannte als Beispiele für mehr ambulante OPs Leistenbruch- und Gelenk-Operationen. Sie könnten künftig so laufen, dass Patienten morgens kommen und nach der Operation nachmittags nach Hause gebracht werden. Vorteil für Patientinnen und Patienten sei auch: "Sie könnten unmittelbar nach den Eingriffen zurück in ihre gewohnte Umgebung, unter anderem auch Infektionen durch gefährliche Krankenhauskeime würden damit reduziert." Generell können Praxisärzte bestimmte Eingriffe auch in Krankenhäusern oder in kleineren OP-Zentren machen.

Die Klinikbranche reagierte ablehnend auf die Idee zu mehr OPs in Praxen. "Der Vorschlag klingt gut, ist aber völlig unrealistisch", sagte der Chef Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, der "Bild" (Dienstag). Schon heute müssten gesetzlich Versicherte viele Monate, teils weit über ein halbes Jahr auf Termine beim Facharzt warten. "Wir wollen uns gar nicht vorstellen, wie sich dieser Zustand noch weiter verschlechtern würde, wenn jetzt noch zusätzlich Millionen von Patientinnen und Patienten aus den Krankenhäusern auf ambulante Operationen in den Arztpraxen warten müssten."

Die gesetzlichen Krankenkassen halten eine stärkere Verlagerung von Operationen in den ambulanten Bereich generell für sinnvoll, wie der Spitzenverband erklärte. Allerdings gebe es da natürlich Grenzen - sind besondere Nachsorge oder Ausstattung für Komplikationen nötig, müsse eine OP im Krankenhaus gemacht werden. Vorteil von Operationen in ambulanten Einrichtungen sind nicht zuletzt geringere Kosten, weil dort nicht die umfassende Klinik-Infrastruktur zu finanzieren ist. In Krankenhäusern sei für 2021 von 6,4 Millionen vollstationären Fällen mit OP auszugehen, erläuterte der Kassenverband. Ambulante OPs gab es demnach 1,55 Millionen in Kliniken und 5,8 Millionen in Praxen.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz entgegnete auf den Vorstoß der KBV: "Nachsorge oder Komplikationen müssen dann auch von den niedergelassenen Ärzten gestemmt werden." Vorstand Eugen Brysch mahnte aber mit Blick auf oft überlastete Praxen: "Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sollte zunächst dafür sorgen, dass ihre Mitglieder erreichbar sind. Zurzeit ist das landauf, landab nicht der Fall." Wenn Patienten am Telefon durchkämen, erwarteten sie Warteschleifen.

Dem Bundesverband für Ambulantes Operieren zufolge werden jährlich rund sechs Millionen Operationen ambulant gemacht - zwei Drittel davon in ambulanten Praxen, ambulanten OP-Zentren oder sogenannten Praxis-Kliniken. "Man könnte die Zahlen eigentlich verdoppeln", sagte Präsident Christian Deindl der Deutschen Presse-Agentur. Nachfrage bei Patienten gebe es. Allerdings würden die Eingriffe im Vergleich zu einer Operation mit stationärem Aufenthalt nicht ausreichend bezahlt. "Deswegen haben die Kliniken erst zeitlich verzögert und dann nur in geringem Umfang mit dem ambulanten Operieren begonnen und sich mehrheitlich sehr schnell wieder davon verabschiedet."

Zahlreiche Eingriffe könnten - wenn es sich nicht um Notfälle oder schwere, komplexe Operationen handelt - Deindl zufolge ambulant als sogenannte Wahleingriffe gemacht werden: zum Beispiel OPs am Auge, Mandelteilentfernungen oder Operationen nach Leistenbruch. Ambulante Eingriffe seien in vielen Fachgebieten möglich. Als jahrelanger Leiter einer Praxis für Kinderchirurgie führte Deindl selbst etliche ambulante OPs durch. Fachlich gesehen stehe niedergelassenes Personal dem einer Klinik in nichts nach. An einer ambulanten OP seien in der Regel ein Operateur, eine Operationsfachkraft, eine medizinische Fachkraft, ein Anästhesist und eine anästhesieerfahrene medizinische Fachkraft beteiligt. Nicht zuletzt für Kinder und alte Menschen habe es einen positiven Einfluss auf die Genesung, wenn sie nach der OP schnell nach Hause in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren könnten.

Ein Gesetz von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zielt bereits darauf, dass bestimmte Klinikuntersuchungen ohne Übernachtung möglich und von Krankenhäusern abzurechnen sind - mit Einwilligung der Patienten. Das soll mehr Kapazität beim knappen Pflegepersonal am Tage schaffen, wenn weniger Nachtschichten zu besetzen sind. Lieber im Krankenhaus bleiben sollten Patienten aber, wenn eine Versorgung zu Hause über Nacht nicht gesichert ist. Das Gesetz soll auch Anreize beseitigen, die zu höher vergüteten Klinikaufenthalten führen, obwohl es auch ambulant und ohne Unterbringung gehen würde. Für bestimmte Behandlungen soll daher eine "sektorengleiche" Vergütung festgelegt werden, die zwischen dem ambulanten und stationären Niveau liegt.

Der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann sagte: "Das Potenzial für ambulante Operationen im niedergelassenen Bereich ist nachweislich vorhanden." Dabei müsse daran gedacht werden, dass Praxen anders als Kliniken kein Geld der Länder bekommen, sondern Investitionen selbst stemmen müssten. Grundsätzlich ist eine stärkere Arbeitsteilung eines der Ziele der geplanten Krankenhausreform. Stoßrichtung ist aber auch eine Konzentration auf einen kleineren Kreis besonders qualifizierter Kliniken. Eine Kommission der Bundesregierung schätzte kürzlich auch Erfolgschance bei künstlichen Gelenken ab: Würden nur Spezialkliniken Hüften ersetzen, könnten pro Jahr 397 erneute OPs unnötig werden./sam/bum/bg/DP/stw