KIEW (dpa-AFX) - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat nach dem ersten Besuch des Bundeskanzlers in Kiew seit zweieinhalb Jahren seinen Dank für die anhaltende Unterstützung aus Deutschland im Abwehrkampf gegen Russland bekräftigt. Deutschland sei "auf dem Kontinent (...) die Nummer eins, was die Unterstützung für die Ukraine angeht, fast 30 Milliarden Euro", betonte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. "Ich möchte Ihnen persönlich danken, Olaf, und ich danke Ihrem Land, ich danke Deutschland!"
Wichtigster Unterstützer und Waffenlieferant der Ukraine, die sich seit bald drei Jahren einer militärischen Invasion des Nachbarn Russland erwehrt, sind die USA. Allerdings spielen Deutschland und andere europäische Staaten ebenfalls eine Schlüsselrolle, die angesichts des bevorstehenden Machtwechsels in Washington noch an Bedeutung gewinnen dürfte. Bei einem zweitägigen Treffen der Nato-Außenminister mit dem neuen ukrainischen Chefdiplomaten Andrij Sybiha in Brüssel wird es heute unter anderem um die Lage an der Front sowie den aktuellen Unterstützungsbedarf im Abwehrkrieg gegen Russland gehen.
Bei seinem gestrigen Besuch in der Hauptstadt Kiew hatte Scholz der Ukraine anhaltende Waffenlieferungen zugesichert und eine Botschaft an Moskau gerichtet: "Wir haben einen langen Atem. Und wir werden an der Seite der Ukraine stehen, solange wie das nötig ist." Noch in diesem Jahr sollen weitere Rüstungsgüter im Wert von 650 Millionen Euro aus bereits zugesagten Mitteln zur Verfügung gestellt werden. Zu dem Waffenpaket gehören Dutzende Kampfpanzer, Tausende Raketen sowie Drohnen und Flugabwehrsysteme.
Ukrainische Wünsche bleiben unerfüllt
Allerdings bekräftigte Scholz nach dem Treffen mit Selenskyj sein Nein zur Lieferung der von Kiew erbetenen Taurus-Marschflugkörper, mit denen sich theoretisch auch Ziele fernab der Grenze im russischen Staatsgebiet treffen ließen. "Das hat was mit der Reichweite zu tun und den Notwendigkeiten, die Zielsteuerung zu kontrollieren", sagte der Kanzler, der am Morgen nach gut neunstündiger Fahrt mit einem Sonderzug aus Polen in Kiew eingetroffen war. Auch der ukrainische Wunsch einer Einladung in die Nato bleibt unerfüllt.
Für die Ukraine sei wichtig, dass der Umfang der deutschen Unterstützung in Zukunft nicht abnehme, betonte Selenskyj. "Das wird das wichtigste Signal an alle unsere anderen Partner sein." Zudem sei mit Scholz vereinbart worden, dass Deutschland der Ukraine künftig weiter zur Seite stehen werde, "unabhängig davon, was in der Weltpolitik passiert, welche Stimmungsschwankungen es geben mag".
Ukraine bangt vor Machtwechsel in Washington
Angesichts des Sieges von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen wird in der Ukraine und ihren europäischen Unterstützerländern befürchtet, dass die USA ihre Hilfe für Kiew schon bald einstellen könnten - und Russland durch eine einseitige Friedensregelung zulasten der Ukraine faktisch als Sieger aus dem Angriffskrieg hervorgeht, den Kremlchef Wladimir Putin im Februar 2022 völkerrechtswidrig angeordnet hatte. Trump hat mehrmals angedeutet, die Unterstützung für Kiew deutlich einzuschränken.
Auch deshalb bemüht sich die scheidende Regierung von US-Präsident Joe Biden darum, die Ukraine vor dem Machtwechsel in Washington am 20. Januar zu stärken - und stellt zur Abwehr der russischen Angriffe weitere Militärausrüstung im Umfang von rund 725 Millionen US-Dollar (rund 690 Millionen Euro) zur Verfügung. Das neue Paket enthält nach Angaben des US-Außenministeriums unter anderem Munition für das Raketenwerfersystem Himars sowie Drohnen, Stinger-Flugabwehrraketen, Panzerabwehrwaffen und Artilleriemunition der Kaliber 155 und 105 Millimeter.
Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan teilte mit, der US-Präsident habe das Verteidigungsministerium angewiesen, das Material "rasch" an die Ukraine zu liefern. Bis Mitte Januar würden nun Hunderttausende zusätzliche Artilleriegeschosse, Tausende zusätzliche Raketen und andere wichtige Militärausrüstung geliefert, "um die Ukraine bei der Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit zu unterstützen". Die ukrainischen Truppen sind derzeit vor allem in der Ostukraine stark unter Druck und müssen nahezu täglich Positionen aufgeben.
Mehr Schutz für Nachschub-Drehkreuz in Polen
Derweil will Norwegen mehrere Kampfflugzeuge, etwa 100 Soldaten sowie Luftabwehrsysteme des Typs Nasams nach Polen schicken, um den Flughafen in Rzeszow nahe der ukrainischen Grenze zu schützen. "Die Situation in der Ukraine ist kritisch und der Transport von Material in das Land findet zu einem großen Teil durch Polen statt", teilte der norwegische Verteidigungsminister Bjørn Arild Gram mit. Die Schutzmission werde in die Luft- und Raketenabwehr der Nato im polnischen Luftraum integriert und bis Ostern andauern.
Das EU- und Nato-Land Polen ist ein politisch und militärisch wichtiger Verbündeter der Ukraine und spielt eine entscheidende Rolle als logistische Drehscheibe für die Militärhilfe des Westens. Zentral für den Transport von Rüstungsgütern ist der Flughafen in der Nähe von Rzeszow, etwa 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Dort sind US-Soldaten stationiert, der Flughafen wird von Einheiten des amerikanischen Flugabwehrsystems Patriot geschützt. Auch Deutschland hat angekündigt, zum Jahresanfang erneut Patriot-Systeme in den Südosten Polens zu verlegen.
Schwere Kämpfe im Westen Russlands
Derweil liefern sich die russischen und ukrainischen Streitkräfte weiter erbitterte Gefechte in der westrussischen Region Kursk. Ukrainische Truppen waren dort im August überraschend auf russisches Gebiet vorgestoßen und halten dieses seitdem besetzt. Ukrainische Medien berichteten, in der Region Nowoiwanowsk sei ein massiver russischer Angriff mit Artillerieunterstützung zurückgeschlagen worden, aufseiten des russischen Militärs habe es 16 Tote gegeben. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden, Zahlen zu ukrainischen Gefallenen wurden nicht genannt.
Um die Region Kursk zurückzuerobern, hat Russland etwa 50.000 Soldaten dort zusammengezogen, darunter 10.000 Kämpfer aus Nordkorea. Ziel des russischen Militärs ist nach ukrainischer Darstellung, das Gebiet noch vor Trumps Amtsantritt am 20. Januar wieder unter russische Kontrolle zu bringen. Die ukrainische Führung wiederum betrachtet die besetzten Gebiete im Nachbarland als Faustpfand bei eventuellen Verhandlungen über eine Waffenruhe./cha/DP/zb