ESSEN (dpa-AFX) - Der Industriekonzern Thyssenkrupp setzt für die Zukunft seines Stahlgeschäfts auf den tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky. Dazu verhandeln die Essener über einen Enstieg der Kretinsky-Holding EPH. Der neue Konzernchef Miguel López erhofft sich dadurch eine Lösung bei den zu erwartenden höheren Energiekosten im Zusammenhang mit dem Umbau hin zu einer weniger klimaschädlichen Produktion. Im vergangenen Geschäftsjahr musste Thyssenkrupp Milliarden auf das Stahlgeschäft abschreiben, das derzeit unter einer schwachen Nachfrage sowie gesunkenen Preisen gepaart mit höheren Kosten leidet. Dies ließ das Essener Traditionsunternehmen tief in die roten Zahlen rutschen.

Thyssenkrupp hatte am Mittwochmorgen bei der Vorlage seiner Jahresbilanz "konstruktive und ergebnisoffene Gespräche mit dem Energieunternehmen EPH" bestätigt, der Holding Kretinskys. Gesprochen werde über ein potenzielles Gemeinschaftsunternehmen (Joint Venture) mit der Tochter Steel Europe, bei der Thyssenkrupp eine Verselbstständigung plant. Wie ein mögliches Joint Venture gestaltet werden könnte, sei dabei Gegenstand der Verhandlung. Wie López in Essen sagte, wird derzeit über ein Modell verhandelt, bei dem Thyssenkrupp und EPH je 50 Prozent hielten. Einen Zeitrahmen wollte der Konzernchef nicht nennen.

Zu EPH gehören unter anderem in Ostdeutschland die Braunkohlekonzerne Mibrag und Leag, die künftig verstärkt klimaneutral Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen wollen.

Die Stahlsparte von Thyssenkrupp soll klimaneutral werden. Erster Schritt ist der Bau einer sogenannten Direktreduktionsanlage zur Stahlerzeugung in Duisburg, die einen Hochofen ersetzen soll. Sie soll zunächst mit Erdgas, später mit immer mehr klimaneutral erzeugtem Wasserstoff betrieben werden. Der Erfolg der CO2-neutralen Stahlproduktion sei im Wesentlichen abhängig von der sicheren Versorgung mit großen Mengen grüner Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen, erklärte López. Steel Europe werde absehbar einer der größten Verbraucher von Grünstrom und grünem Wasserstoff sein.

"Es ist unvorstellbar, von Volatilitäten abhängig zu sein, wie wir sie bei den Angebotspreisen für grüne Energien heute kennen. Denn künftig werden die Energiekosten bei der Stahlherstellung bis zur Hälfte der Gesamtkosten ausmachen." Dies könne Thyssenkrupp nicht alleine managen. Aus diesem Grund stehe Thyssenkrupp im Austausch mit möglichen strategischen Partnern aus dem Bereich der Energiewirtschaft. Und deswegen seien auch die Gespräche mit EPH so "immanent wichtig". Einen "Plan B" bei einem Scheitern der Gespräche gibt es López zufolge. Wie dieser aussieht, wollte er aber nicht sagen.

"Wir wollen eine gute Lösung für den Stahl, für die Beschäftigten beim Stahl, für die Kunden beim Stahl - und damit die Zukunft und den Erfolg des Industriestandorts Deutschland", sagte der Manager. Für die Beschäftigten der Sparte sieht Vorstand Oliver Burkhard "überschaubare" Auswirkungen. "Steel Europe würde neben Thyssenkrupp einen weiteren Gesellschafter bekommen. Alle bestehenden Tarifverträge, alle Vereinbarungen zur Beschäftigungs- und Standortsicherung sowie alle sonstigen Vereinbarungen im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung blieben davon unberührt", sagte er. Der Ansatz würde auch von EPH unterstützt.

Insgesamt will Thyssenkrupp das Thema Dekarbonisierung vorantreiben. Zum Oktober hat das Unternehmen eine Umstrukturierung seiner Geschäftsbereiche umgesetzt und die Technologien in diesem Zusammenhang unter der neuen Sparte Decarbon Technologies zusammengefasst. Darin enthalten ist auch die börsennotierte Mehrheitsbeteiligung an dem im Kleinwertesegment SDax notierten Elektrolyseur Thyssenkrupp Nucera . Das Unternehmen will den Themenkomplex aber nicht allein auf die neue Sparte beschränkt wissen. "Wir richten den gesamten Konzern auf die grüne Transformation und Zukunftsthemen aus - zum Beispiel auch Automotive Technology und Materials Services", erläuterte López. Der Automotive-Bereich etwa soll sein Geschäft im Bereich E-Mobilität weiter ausbauen.

Für das Marine-Geschäft TKMS wird hingegen ebenfalls eine Verselbstständigung angestrebt. Diese sei als "Ausgangspunkt für eine nationale und europäische Konsolidierung unerlässlich", sagte Vorstandsmitglied Burkhard. Dazu würden verschiedene Optionen geprüft, ein Ergebnis gebe es noch nicht. Auch ein möglicher Einstieg des Staates werde von der Bundesregierung sondiert.

Die Zahlen zum vergangenen Geschäftsjahr rückten ob der Gemengelage etwas in den Hintergrund. Unter dem Strich stand 2022/23 (per Ende September) ein Jahresverlust von rund zwei Milliarden Euro. Dabei belasteten Wertberichtigungen von rund 2,1 Milliarden Euro, insbesondere auf das Anlagevermögen der Tochter Steel Europe. Die Abschreibungen seien wegen des konjunkturbedingt eingetrübten Umfelds sowie höherer Kapitalkosten nötig geworden, hieß es. Thyssenkrupp hatte ursprünglich einen "mindestens" ausgeglichenen Jahresüberschuss in Aussicht gestellt, nach einem Gewinn von 1,2 Milliarden Euro ein Jahr zuvor. Aktionäre sollen dank eines deutlich verbesserten Mittelzuflusses dennoch eine unveränderte Dividende von 15 Cent je Aktie erhalten. Sinkende Stahlpreise und gleichzeitig gestiegene Rohstoff- und Energiekosten belasteten das um Sondereffekte bereinigte Ergebnis vor Zinsen und Steuern (Ebit). Dieses sank von zuvor knapp 2,1 Milliarden auf 703 Millionen Euro und erfüllte damit in etwa die durchschnittlichen Erwartungen der Analysten. Der Umsatz sank um neun Prozent auf 37,5 Milliarden Euro. Steel Europe und das Handelsgeschäft verzeichneten im Schlussquartal eine nochmals schwächere Entwicklung.

"Wir haben zwar Fortschritte bei der Cash-Generierung gemacht. Operativ war das ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es reicht bei Weitem noch nicht aus", bilanzierte der seit sechs Monaten amtierende López. "Die Leistungsfähigkeit der Geschäfte ist nicht da, wo sie sein sollte - und das seit Jahren schon. Auf den Punkt gebracht: Wir verdienen zu wenig Geld." Deswegen will der Konzernchef die Transformation vorantreiben und intensivieren. Dazu hat Thyssenkrupp das Programm "Apex" installiert, das bis 2024/25 einen positiven Effekt auf das bereinigte Ebit von bis zu zwei Milliarden Euro haben soll.

Im neuen Geschäftsjahr will Thyssenkrupp wieder in die Gewinnzone zurückkehren. Dabei geht das Management von einem anhaltend schwierigen konjunkturellem Umfeld aus. So erwartet das Unternehmen einen Jahresüberschuss im niedrigen bis mittleren dreistelligen Millionen-Euro-Bereich. Das bereinigte Ebit soll auf einen hohen dreistelligen Millionen-Euro-Betrag steigen, den Umsatz sieht Thyssenkrupp leicht wachsen. Insbesondere Decarbon Technologies und Marine Systems sollen dazu beitragen.

Die Aktie von Thyssenkrupp gewann bis zum Mittag mehr als sechs Prozent und führte die Gewinnerliste im MDax an. Analyst Moses Ola von JPMorgan lobte in einer ersten Einschätzung die starken Barmittel des Industriekonzerns. Dem stünden allerdings unter den Erwartungen liegende Zahlen von Steel Europe gegenüber sowie hohe Wertberichtigungen für das Stahlsegment. Den Ausblick sah er im Rahmen der Erwartungen.

Anteile an Thyssenkrupp Nucera gewannen knapp drei Prozent. Das Unternehmen hatte am Vorabend Indikationen zum Geschäftsverlauf gemacht, jedoch noch keine Zahlen vorgelegt. Diese will der Börsenneuling am 18. Dezember veröffentlichen. Der Elektrolyseur ist den Angaben zufolge zum Ende seines Geschäftsjahres noch einmal gewachsen. Der Umsatz der Monate Juli bis September habe infolge der Abwicklung des großen Auftragsbestands "stark" zugelegt, hieß es. Das Ergebnis vor Zinsen und Steuern (Ebit) sei leicht positiv./nas/tav/jha/