MAGDEBURG (dpa-AFX) - Nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag von Magdeburg mit fünf Toten und vielen Schwerverletzten rückt die Frage in den Blick, ob die Gewalttat hätte verhindert werden können. Mehrere Behörden wurden in der Vergangenheit auf den Täter Taleb A. hingewiesen, der zudem schon vor Jahren mit Drohungen aufgefallen war.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erhielt nach eigenen Angaben im Spätsommer 2023 einen Hinweis auf den Mann. Nach Angaben des Chefs des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, wurde nach einem Hinweis aus Saudi-Arabien zu dem Mann im November 2023 ein Verfahren eingeleitet. Die Sache sei aber unspezifisch gewesen. "Er hat auch verschiedene Behördenkontakte gehabt, Beleidigungen, auch mal Drohungen ausgesprochen. Er war aber nicht bekannt, was Gewalthandlungen angeht", sagte Münch im ZDF.

Der 50-jährige Taleb A. war am Freitagabend mit einem Mietwagen auf einem Weihnachtsmarkt in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt in die Menschengruppe gerast. Dabei wurden ein neunjähriges Kind sowie vier Frauen getötet und mehr als 200 weitere verletzt. Viele von ihnen erlitten schwere und schwerste Verletzungen, deswegen könnte die Zahl der Todesopfer weiter steigen. Taleb A. wurde unmittelbar nach der Tat festgenommen. Der Arzt aus Bernburg südlich von Magdeburg stammt aus Saudi-Arabien und lebt seit 2006 in Deutschland, er ist als islamkritischer Aktivist bekannt. Er befindet sich inzwischen in Untersuchungshaft.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser sicherte zu, die Ermittlungsbehörden würden alle Hintergründe aufklären. "Dabei wird auch genau untersucht, welche Hinweise es in der Vergangenheit bereits gab und wie diesen nachgegangen wurde", sagte die SPD-Politikerin der "Bild am Sonntag".

Bundesamt erhielt Hinweis

Das Bundesamt erhielt den Hinweis zum Tatverdächtigen nach eigenen Angaben über seine Social-Media-Kanäle. "Dieser wurde, wie jeder andere der zahlreichen Hinweise auch, ernst genommen", schrieb das Bamf auf der Plattform X. Da das Bundesamt keine Ermittlungsbehörde sei, sei die hinweisgebende Person, wie in solchen Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen worden.

Im Netz kursieren derzeit Screenshots, die Nachrichten einer Person mit Warnungen vor dem Täter an das Bamf zeigen sollen. Die Echtheit dieser Screenshots war zunächst nicht zu verifizieren.

Die "Welt am Sonntag" berichtete über eine Frau, die Ende 2023 Warnungen über Taleb A. an den X-Account des Bamf geschickt habe. Zuvor habe sie bereits versucht, die Berliner Polizei vor dem Mann zu warnen. Ihre E-Mail sei nicht angekommen, da sie diese versehentlich an die Polizei einer Gemeinde namens Berlin in den USA geschickt habe, berichtete die Zeitung.

Bereits vor über zehn Jahren aufgefallen

Die Berliner Polizei schrieb auf X, dass aktuell Screenshots mit vermeintlichen Hinweisen an sie im Zusammenhang mit Magdeburg kursierten. "Zum jetzigen Zeitpunkt können wir diese Hinweise nicht bestätigen, und auch einen Fake nicht ausschließen. Die Prüfung hierzu dauert an", hieß es am Samstagabend. Unabhängig davon war der Täter der Berliner Justiz bekannt: Nach dpa-Informationen lag dort ein Verfahren der Amtsanwaltschaft wegen des Missbrauchs von Notrufen durch Taleb A. vor. Zuerst hatte der "Spiegel" berichtet.

Der Direktor der Magdeburger Polizeiinspektion, Tom-Oliver Langhans, erklärte am Samstag auf einer Pressekonferenz, dass die Polizei in der Vergangenheit eine Strafanzeige aufgenommen habe. "Es ist auch von unserer Seite versucht worden, eine Gefährderansprache durchzuführen. Das ist jetzt auch noch Gegenstand der Ermittlungen, woran das dann nachher letztendlich in diesem Verfahren dazu nach meiner Erkenntnis erst mal so nicht gekommen ist." Dieses Verfahren liege aber derzeitig schon ein Jahr zurück.

Auch in Mecklenburg-Vorpommern war Taleb A. vor mehreren Jahren aufgefallen. Im Jahr 2013 wurde er vom Amtsgericht Rostock zu 90 Tagessätzen wegen Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten verurteilt, wie Landesinnenminister Christian Pegel (SPD) bei einer Pressekonferenz in Schwerin sagte. Dem Minister zufolge hatte A. von 2011 bis Anfang 2016 in Mecklenburg-Vorpommern gelebt und in Stralsund Teile seiner Facharzt-Ausbildung absolviert. Zuvor hatte der "Spiegel" über das Urteil berichtet.

In einem Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen habe der Mann gegenüber Vertretern der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern mit einer Tat gedroht, die internationale Beachtung bekommen werde. Dabei habe er auf den Anschlag beim Boston-Marathon verwiesen. Im Zuge der Ermittlungen gab es laut Pegel auch eine Durchsuchung bei dem Mann. Es seien jedoch keine Hinweise auf eine reelle Anschlagsvorbereitung gefunden worden.

BKA: Kein Hinweis auf islamistisch motivierten Anschlag

BKA-Chef Münch sagte im ZDF-"heute journal" zur Attacke von Magdeburg, es gebe - anders als bei ähnlichen Taten in der Vergangenheit - keinen Hinweis auf einen islamistisch motivierten Anschlag. Auch der Generalbundesanwalt sage noch nicht eindeutig, wie der Sachverhalt einzuordnen sei. Der Tatverdächtige habe eine islamfeindliche Einstellung, er habe sich auch mit rechtsextremen Plattformen beschäftigt, sagte der Chef des Bundeskriminalamts. Es sei aber noch nicht abschließend möglich zu sagen, dass die Tat politisch motiviert gewesen sei.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann sagte im ZDF, der Tatverdächtige habe nicht in ein bestimmtes Raster gepasst. "Er war eben kein typischer Islamist. Er war ein Saudi, der sich gegen den Islam gewendet hat." Das passe für Behörden nicht so richtig in die gängigen Schemas rein. Zudem habe man heute eine Flut von Informationen von Tausenden von Leuten, die im Internet ähnliche Botschaften sendeten. "Und es ist ganz, ganz schwierig zu unterscheiden: Wer meint es ernst, und wer ist nur auf dem Internet und macht Sprüche?"

Was könnte das Tatmotiv sein?

Der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens hatte am Samstag gesagt, das Motiv des Täters könnte Unzufriedenheit über den Umgang mit Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland gewesen sein. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte am Sonntag, die Äußerungen des Mannes zur Motivlage hätten eher wirr geklungen.

In sozialen Netzwerken präsentierte sich der Festgenommene als vehementer Kritiker des Islams und des repressiven Machtapparats in Saudi-Arabien. Zugleich setzte er sich für die Belange vor allem von Frauen aus seinem erzkonservativ geprägten Heimatland ein. In sozialen Medien und Interviews erhob er zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden und hielt ihnen unter anderem vor, nicht genug gegen Islamismus zu unternehmen.

Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur sagt der Tatverdächtige über sich selbst, er sei früher Muslim gewesen, habe sich inzwischen aber vom Glauben abgewandt. Im Februar 2016 stellte er einen Asylantrag, der im Juli desselben Jahres positiv beschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt damals Asyl als politisch Verfolgter.

Erst vor rund zehn Tagen veröffentlichte die amerikanische Plattform "RAIR", die sich selbst als antimuslimische Graswurzel-Organisation beschreibt, ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit dem Arzt. Darin warf er der deutschen Polizei vor, das Leben saudischer Asylsuchender, die sich vom Islam losgesagt hätten, gezielt zu zerstören. Zudem präsentierte er sich als Fan von X-Inhaber Elon Musk, der inzwischen Positionen der amerikanischen Rechten vertritt, und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge. Gleichzeitig bezeichnete er sich aber politisch als links.

Debatte über Sicherheitskonzept

Für Diskussionen sorgt auch, dass der Tatverdächtige trotz Sicherheitsmaßnahmen mit seinem Wagen auf den Weihnachtsmarkt gelangen konnte. Er soll über einen Flucht- und Rettungsweg auf den Markt gelangt sein, wie Polizeiinspektions-Direktor Langhans berichtete. Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt, sagte dazu: Das Sicherheitskonzept für den Markt sei "nach bestem Wissen und Gewissen" erstellt und zuletzt im November verschärft worden.

Der Extremismus-Experte Hans-Jakob Schindler äußerte in den ARD-"Tagesthemen" hingegen Zweifel am Sicherheitskonzept. Es sei seit Jahren bekannt, dass Fahrzeuge und Menschenansammlungen eine sehr gefährliche Kombination darstellten. Es sei daher "schwer zu erklären, wieso es einem Fahrzeug gelungen ist, auf einen Weihnachtsmarkt in Deutschland zu gelangen", sagte er./csd/bg/cht/mov/DP/he