NÜRNBERG (dpa-AFX) - Wer in Deutschland einen Klempner braucht, einen Dachdecker oder einen Elektriker, muss entweder gute Kontakte haben - oder viel Geduld. Der Fachkräftemangel greift Raum. Und die Zahlen, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) am Montag vorgelegt hat, lassen die Alarmlampen aufleuchten: Dem ohnehin strapazierten deutschen Arbeitsmarkt gehen bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte verloren - wenn nicht kräftig gegengesteuert wird.
Die Entwicklung kommt nicht überraschend. Hintergrund ist hauptsächlich, dass viele Arbeitnehmer der sogenannten Baby-Boomer-Jahrgänge bald in Rente gehen. "Dass der demografische Wandel kommt, ist seit langer Zeit absehbar. Und er wird weiter zunehmen. Schon heute gibt es 1,8 Millionen offene Stellen - der Arbeits- und Fachkräftemangel zieht sich längst quer durch alle Branchen", sagte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA).
Das Problem könne aber gelöst oder zumindest gelindert werden, wenn es gelinge, die Erwerbsquoten zu erhöhen - etwa bei Älteren und bei Migrantinnen - sowie gezielte Zuwanderung erfolgreich zu ermöglichen, heißt es in der IAB-Studie.
"Bis 2035 verliert Deutschland durch den demografischen Wandel sieben Millionen Arbeitskräfte und damit ein Siebtel des Arbeitsmarkts", sagte IAB-Forscher Enzo Weber, einer von vier Autoren der Studie. "Aber die Schrumpfung lässt sich aufhalten, wenn alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um Ältere im Job zu halten, berufliche Entwicklung von Frauen zu stärken, Zuwanderer anzuziehen und zu integrieren, Arbeitslosigkeit weiter abzubauen und die Geburtenrate zu erhöhen", betonte Weber.
Dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) geht das bisher nicht schnell und nicht konsequent genug. "Immer noch kommen zu viele Arbeitslose nicht in Arbeit, und zu viele Ausbildungswillige nicht in Ausbildung, Menschen mit Migrationsgeschichte werden diskriminiert, Fachkräfte arbeiten in fachfremden Berufen, zahlreiche Menschen verlassen ihren Beruf - etwa in der Pflege, im sozialen Bereich und der Gastronomie", bemängelte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel.
"Die Bundesregierung muss strukturelle Probleme abräumen und die hausgemachten Ursachen des Fachkräftemangels beseitigen", verlangte sie. "Wir brauchen bessere Aus- und Weiterbildung, mehr Qualifizierung und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen." Menschen mit Behinderungen bräuchten bessere Zugänge zu Arbeit, ältere Beschäftigte brauchen passende Arbeitsbedingungen. Hier seien vor allem die Unternehmen in der Pflicht: "Arbeitgeber, die Beschäftigte nicht aus- und weiterbilden und schlechte Löhne zahlen, können nicht gleichzeitig lauthals immerzu das Fehlen von Fachkräften beklagen", sagte Piel.
Beispiel Ältere: In den 1990er Jahren sei es sehr beliebt gewesen, ältere Arbeitnehmer vorzeitig in den Ruhestand zu schicken und damit gegen Massenarbeitslosigkeit anzukämpfen, sagte Weber. Heute müsse man zusehen, die Menschen möglichst lange in Arbeit zu halten. Auf diesem Weg sei schon viel erreicht. "Vor einigen Jahren war es noch die Minderheit der 60-Jährigen, die in Arbeit war. Heute ist es deutlich die Mehrheit", sagte Weber. Dennoch: Die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen liege um 20 Prozentpunkte unterhalb der der 55- bis 59-Jährigen.
Auch wenn vor 20 Jahren der Unterschied noch 40 Punkte betrug - es ist bei der Beschäftigung von über 60-Jährigen noch immer Luft nach oben. Allein 2,4 Millionen zusätzliche Erwerbspersonen seien möglich, wenn es gelänge, die Altersgruppen der 60- bis 64-Jährigen und der 65- bis 69-Jährigen auf das Niveau der Altersgruppe jeweils darunter zu hieven. Möglich machen könnten dies etwa besser angepasste Arbeitszeiten und dem Alter entsprechende Tätigkeitsprofile.
Statt des "goldenen Handschlags" sollten Möglichkeiten ausgelotet werden, wie vielleicht eine Weiterbeschäftigung woanders möglich sei. Dies gelte etwa, wenn in Transformationsbranchen wie der Automobilindustrie örtlich Abbau nötig sei. IAB-Forscher Weber prophezeite in diesem Zusammenhang: "Das Rentenalter wird nicht bei 67 Jahren bleiben." BDA-Hauptgeschäftsführer Kampeter betonte, es dürfe "keine Tabus und Denkverbote" geben, weder beim Renteneintrittsalter noch bei der Erwerbszuwanderung.
In puncto Migration, so glauben die Nürnberger Forscher, gibt es weitere große Potenziale zu heben - nicht nur bei Zuwanderern, sondern auch bei bereits im Land befindlichen Frauen mit Migrationshintergrund. Hier sei die Erwerbsquote deutlich niedriger als bei deutschen Frauen. Mehr deutsche Frauen in Arbeit zu bringen, könnte einen Zuwachs von 600 000 Arbeitskräften bedeuten. Gelänge dies auch bei den Ausländerinnen, seien weitere 400 000 möglich.
Bei der Zuwanderung gibt Weber zu bedenken, dass es nicht nur darum gehe, weitere Menschen, möglichst mit guter beruflicher Qualifikation nach Deutschland zu bringen. Entscheidend sei auch, das Abwandern von bereits im Land befindlichen Migranten möglichst zu verhindern. Die Abwanderungsquote liege derzeit bei sieben Prozent. Sie müsse auf 5,5 Prozent gedrückt werden, um nicht negative Effekte zu riskieren./dm/DP/ngu