LEVERKUSEN (dpa-AFX) - Schnellschüsse wird es unter ihm nicht geben: Der designierte Bayer-Chef Bill Anderson will sich Zeit nehmen, den Pharma- und Chemiekonzern zu verstehen. In den 60 Tagen bis zu seinem Amtsantritt als neuer Unternehmenslenker will er viel reisen und mit Mitarbeitern reden. Das kündigte der Manager am Dienstagabend vor Journalisten in Leverkusen an.
Es ist sein zweiter voller Arbeitstag in der Konzernzentrale, seit Anfang April ist er Vorstandsmitglied, die Einarbeitung läuft, Anfang Juni übernimmt er das Ruder. Wann genau er Pläne für die Bayer-Zukunft vorstellen will, ließ er offen. Vieles hänge davon ab, ob es einen strategischen, also groß angelegten Wandel brauche. Eine Aufspaltung - wie von einigen Investoren gefordert - dürfte es unter Anderson jedenfalls so schnell nicht geben.
"Die Frage nach der Konzernstruktur ist einfach gestellt, weil es um etwas Großes, etwas Greifbares geht." Es gebe viele Investoren, und einige riefen nach einer Aufspaltung, andere wollten anderes. "Einige der dynamischsten und erfolgreichen Unternehmen der Welt sind mit ihren Produkten breit aufgestellt." Es gebe schlicht keinen "direkten Zusammenhang zwischen einem vielfältigen Produktangebot für verschiedene Märkte und der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens".
Was Anderson den Anwesenden schon einmal mitgibt, ist seine Sicht, wie ein Unternehmen - egal welcher Größe - funktionieren sollte. Er will einen "Sense of Ownership" schaffen: Mitarbeiter sollen sich verantwortlich fühlen und den Willen haben, Dinge zu denken und voranzubringen, als wäre es ihr Unternehmen. Eine solche Unternehmenskultur zu etablieren, sei jedoch ein gewaltiges Unterfangen. Er selbst habe dies bereits erlebt.
Zudem fordert der angehende Bayer-Chef einen "Strong Mission Focus", also volle Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben. "Wie stellen wir sicher, dass wir nur das tun, was wir auch tun müssen, um die Ziele zu erreichen." Dabei müssten die Mitarbeiter motiviert sein, sich mit ihrem Job verbunden fühlen. Das geschehe zu selten in manch großen Unternehmen. Dabei kann Anderson sich einen Seitenhieb auf die Meeting-Kultur nicht verkneifen, die einen guten Teil des Alltags vermutlich nicht wenigen Konzerne bestimmt.
Der Mittfünfziger ist studierter Chemieingenieur und ein ausgewiesener Pharmaexperte mit langjähriger Erfahrung unter anderem bei Biogen, Genentech und Roche. Beim US-Biotechunternehmen Genentech habe er in bestimmten Bereichen feste Budgets abgeschafft, die Mitarbeiter unnötig gefesselt hätten. Die Produktivität sei gestiegen, die Kosten aber nicht. Genentech gehört seit 2009 zu Roche.
Der Schweizer Pharmakonzern war auch der letzte Arbeitgeber des US-Amerikaners vor Bayer. Bei dem Konkurrenten verantwortete der Manager das Pharmageschäft. Als er bei der Besetzung des Konzernchefpostens nicht berücksichtigt wurde, ging er. Das ist nur ein paar Monate her, womöglich ein Glücksfall für Bayer. Der Konzern hatte die Suche nach einem Nachfolger für den langjährigen Chef Werner Baumann schon vor einer Weile eingeleitet.
Mit Anderson dürfte Bayer auch den Investoren entgegenkommen, die einen personellen Strich unter die Monsanto-Ära machen wollten, erklärte Analystin Emily Field von der Barclays Bank jüngst. Baumann hatte die mehr als 60 Milliarden US-Dollar teure Übernahme des US-Agrarchemiekonzerns eingefädelt, 2018 wurde sie abgeschlossen. Mit ihr hatten sich die Leverkusener neben erfolgreichen Produkten allerdings auch umfangreiche US-Streitigkeiten in Haus geholt - es ging um angebliche Krebsrisiken glyphosathaltiger Unkrautvernichter sowie um Spätfolgen der seit Jahrzehnten verbotenen Chemikalie PCB. In Summe hat das Milliarden verschlungen, vor allem die Causa Glyphosat.
Ein Großteil der Glyphosat-Fälle ist mittlerweile abgearbeitet, zuletzt gab es auch Gerichtserfolge für Bayer. Die verbliebenen Risiken erscheinen überschaubar, haften Bayer aber immer noch an. Zu dem Thema wollte und konnte Anderson sich so kurz nach seinem Einzug in den Vorstand nicht äußern.
Zum Abarbeiten dieser Probleme dürfte er aber auch nicht nach Leverkusen geholt worden sein. Er soll vielmehr frische Sichtweisen auf das Tagesgeschäft mitbringen. Bei Roche trieb er in den vergangenen Jahren die Erneuerung des Pharma-Portfolios erfolgreich voran. Wenngleich es 2022 einige Rückschläge gab, ist seine Bilanz unter dem Strich positiv. Zahlreiche Arzneien erreichten unter seiner Führung die Marktreife, die Pipeline des Schweizer Pharmakonzerns ist mit Medikamentenkandidaten prall gefüllt.
Auch Bayers Pharmasparte hat unter ihrem Chef Stefan Oelrich in den vergangenen zwei, drei Jahren große Fortschritte gemacht. Die Umsatzlücke, die die schrittweisen Verluste der Patente für die Kassenschlager Xareto und Eylea in den kommenden Jahren aufreißen wird, hat ihren Schrecken ein gutes Stück weit verloren.
Erst im Januar hatte Oelrich die Prognosen für neue Wachstumstreiber auf einen Jahresspitzenumsatz von mehr als zwölf Milliarden Euro angehoben. Allerdings wird es bis dahin noch ein paar Jahre dauern: Zwei der Mittel - der neuartige Blutgerinnungshemmer Asundexian und der Wirkstoff Elinzanetant gegen Wechseljahresbeschwerden - sind noch nicht zugelassen. Die Geschäfte mit dem Prostatakrebsmedikament Nubeqa und dem Mittel Kerendia für Nierenpatienten mit Diabetes sind derweil ordentlich angelaufen.
Ohnehin hängt viel an Asundexian, für das zulassungsrelevante Phase-III-Studien jüngst angeschoben wurden. Bis zu den Ergebnissen wird es noch dauern, bis zu Zulassungen durch die Behörden noch länger. Anders als den Vorgänger Xarelto will Bayer Asundexian im Erfolgsfall auch im wichtigen US-Markt selbst verkaufen. Dafür muss allerdings erst einmal ein schlagkräftiger Vertrieb aufgebaut werden, dies ist ein zunächst teures Unterfangen. Sicherlich schaden Andersons tiefe Kenntnisse des US-Marktes auch hierbei nicht./mis/tav/jha/
- Von Michael Schilling, dpa-AFX -