TEL AVIV/BEIRUT/RAMALLAH (dpa-AFX) - Zwischen Israels Armee und der Hisbollah-Miliz im Libanon geht der gegenseitige Beschuss mit voller Wucht weiter. Die proiranische Miliz feuerte in der Nacht Dutzende Raketen auf den Norden Israels ab, die so weit reichten wie noch nie seit Beginn der Angriffe der Hisbollah auf Israel vor fast einem Jahr. Die meisten seien abgefangen worden, teilte die israelische Armee mit. Berichte über Tote gab es nicht. Sanitäter meldeten sechs Verletzte. Nachdem die israelische Luftwaffe nach eigenen Angaben seit Samstagnachmittag rund 400 Ziele im Libanon attackiert hatte, flog sie am Morgen weitere Angriffe gegen Stellungen der Hisbollah im Libanon, wie die Armee mitteilte.

In den vergangenen Stunden habe die Hisbollah aus der Luft etwa 115 Angriffe auf zivile Gebiete im Norden Israels durchgeführt, hieß es. Die Streitkräfte seien zur Verteidigung in dem Gebiet im Einsatz und befänden sich in höchster Bereitschaft, um die Bedrohungen zu vereiteln. Israels Armee werde ihre Angriffe gegen die Miliz fortsetzen "und intensivieren", hieß es weiter. Es herrschte die Sorge vor einer möglichen Bodenoffensive Israels im Süden des Nachbarlands. Israel will die Hisbollah wieder aus dem Grenzgebiet verdrängen, um die Sicherheit seiner Bürger im Norden zu gewährleisten.

Einschläge im Norden Israels

Die Zahl der Todesopfer des israelischen Angriffs in einem Vorort von Beirut am Freitag, bei dem Hisbollah-Militärkommandeur Ibrahim Akil getötet wurde, stieg unterdessen auf 45. Bei dem heftigen Raketenbeschuss aus dem Libanon in der Nacht gab es nach israelischen Medienberichten Einschläge im Norden Israels. In Kiriat Bialik nahe der Hafenstadt Haifa seien zwei Häuser getroffen worden, berichtete die Nachrichtenseite "ynet". Auch in Haifa selbst gab es Raketenalarm. Aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß es, Israels Armee habe im Laufe der Nacht und des Morgens mehr als 120 Mal im Südlibanon angegriffen.

Die Hisbollah erklärte, sie habe Dutzende Raketen auf Israel abgefeuert, darunter auf den Militärstützpunkt Ramat David nahe Haifa und den dortigen Flughafen sowie auf ein Gelände des israelischen Rüstungsunternehmens Rafael. Auch proiranische Milizen im Irak begannen neue Angriffe. Die Gruppe "Islamischer Widerstand im Irak" - ein Zusammenschluss aus Milizen in dem Land - erklärte, ihre Kämpfer hätten ein "wichtiges Ziel" in Israel mit Drohnen attackiert, ohne Details zu nennen. Sie würden ihre Angriffe fortsetzen, hieß es weiter.

Israels Armee teilte am Morgen mit, sie habe einen von Osten kommenden Flugkörper abgefangen, bevor dieser israelisches Gebiet erreichte. In der Nacht wurden nach Militärangaben mehrere Drohnen abgefangen, die sich Israel vom Irak aus näherten. Verletzte habe es nicht gegeben. Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr kommt es immer wieder zu Angriffen der sogenannten "Widerstandsachse" von Verbündeten des Irans auf Israel.

Angesichts der Eskalation verschärfte die Armee am frühen Morgen die Einschränkungen für Bewohner im Norden Israels. Unter anderem auf den Golanhöhen und in der Küstenstadt Haifa darf kein Unterricht stattfinden. Arbeitsplätze dürfen nur aufgesucht werden, wenn sich ein Schutzraum in der Nähe befindet, wie die "Times of Israel" meldete. Versammlungen im Freien seien auf maximal 10 Personen, in Innenräumen auf 100 Teilnehmer beschränkt.

USA rufen Staatsbürger zum Verlassen des Libanons auf

Die USA rufen angesichts der Eskalation ihre Staatsbürger zum Verlassen des Libanons auf. Aufgrund der unvorhersehbaren Entwicklung "und der jüngsten Explosionen im gesamten Libanon" einschließlich der Hauptstadt Beirut rate die US-Botschaft ihren Landsleuten "dringend, den Libanon zu verlassen, solange noch kommerzielle Optionen verfügbar sind", teilte das US-Außenministerium mit. Noch gebe es Flüge, aber mit reduzierter Kapazität.

Die US-Regierung sei nach Aussagen von Beamten "äußerst besorgt" über das Risiko eines umfassenden Krieges zwischen Israel und dem Libanon, berichtete das Nachrichtenportal "Axios". Washington hoffe aber, den zunehmenden militärischen Druck Israels auf die Hisbollah nutzen zu können, um eine diplomatische Einigung zu erzielen, damit Zivilisten auf beiden Seiten der israelisch-libanesischen Grenze in ihre Häuser zurückkehren können.

Mit diplomatischem und zunehmendem militärischem Druck möchte Israel erreichen, dass die Hisbollah sich aus dem Grenzgebiet zurückzieht, so wie es eine UN-Resolution vorschreibt. Sobald die grenznahe Region wieder sicher ist, sollen 60.000 geflüchtete Israelis in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren. Die Hisbollah will ihre Angriffe auf Israel jedoch erst einstellen, wenn es zu einer Waffenruhe zwischen Israel und der mit ihr verbündeten islamistischen Hamas im Gazastreifen kommt. Israel und die USA suchten nach Möglichkeiten, die Hisbollah-Miliz von der Hamas abzukoppeln, berichtete "Axios" weiter.

Bericht: Israel schließt Al-Dschasira-Büro im Westjordanland

Israelische Soldaten drangen unterdessen nach Angaben des arabischen TV-Senders Al-Dschasira am frühen Morgen in die Büros des Unternehmens im besetzten Westjordanland ein und verfügten die vorläufige Schließung. Schwer bewaffnete und maskierte israelische Soldaten hätten das Gebäude betreten und eine 45-tägige Schließung verhängt, hieß es. Einen Grund für diese Entscheidung hätten sie nicht genannt. Die israelische Regierung hatte bereits im Mai ein Notfallgesetz genutzt, den Betrieb des Senders in Israel einzustellen.

Das sogenannte Al-Dschasira-Gesetz ermöglicht Israels Regierung eine Schließung ausländischer TV-Sender, wenn diese als Risiko für die Sicherheit des Staats eingestuft werden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte den arabischen Sender als "Sprachrohr" der Hamas bezeichnet, das der Sicherheit Israels geschadet habe. Al-Dschasira hatte die Vorwürfe zurückgewiesen und von einem "kriminellen Akt" gesprochen.

Die ohnehin gespannte Lage im Westjordanland hat sich seit dem Massaker der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober vergangenen Jahres in Israel und dem dadurch ausgelösten Gaza-Krieg deutlich verschärft. Seitdem wurden dort nach Behördenangaben in Ramallah bei israelischen Militäreinsätzen, bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschlägen von Extremisten Hunderte Palästinenser getötet./ln/DP/he