MOSKAU/LONDON (dpa-AFX) - Auch nach der Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten gibt es für Russland in dem Angriffskrieg gegen die Ukraine so gut wie keine militärischen Fortschritte. Unterdessen kündigte Moskau am Mittwoch überraschend an, wieder in das erst am Samstag ausgesetzte Abkommen für ukrainische Getreideausfuhren über das Schwarze Meer einzusteigen.
London sieht nur minimale Fortschritte russischer Truppen
Die russischen Invasionstruppen kommen nach britischen Geheimdienstinformationen in der Ukraine nur äußerst langsam voran. Das Verteidigungsministerium in London verwies bei seinem täglichen Update am Mittwoch auf Aussagen des Chefs der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, wonach seine Einheiten täglich 100 bis 200 Meter vorrückten. Prigoschin habe zwar gesagt, dies sei in der modernen Kriegführung normal. London betonte aber, Moskaus Militärdoktrin sehe eigentlich Vorstöße von 30 Kilometern pro Tag vor.
Geschätzt 400 000 Russen wegen Mobilmachung außer Landes geflohen
Laut westlichen Regierungsquellen sind infolge der teilweisen Mobilmachung schätzungsweise 400 000 Russen aus ihrer Heimat geflohen. Bei der Zahl seien noch nicht diejenigen berücksichtigt, die wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine das Land schon vorher verlassen hätten. Neben der Flucht ins Ausland seien auch viele Russen im eigenen Land untergetaucht, um der Einziehung in die Streitkräfte zu entgehen, so die Regierungsvertreter am Mittwoch im Gespräch mit Journalisten. Wenn man das addiere mit der Zahl der Menschen, die tatsächlich eingezogen wurden, sei der Rückgang der berufstätigen Bevölkerung "eine erhebliche zusätzliche Last für Russlands Wirtschaft und seine öffentlichen Finanzen", erklärten sie.
In der vergangenen Woche hatte Moskau mitgeteilt, dass die Ende September begonnene Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine inzwischen abgeschlossen wurde. Rund 82 000 der Männer seien bereits an der Front im Einsatz, die übrigen würden derzeit in Russland auf den Kampf vorbereitet. Neue Maßnahmen der Mobilmachung seien nicht geplant.
Russland kehrt zu Getreideabkommen zurück
Für Überraschung sorgte, dass Russland wieder in das am Samstag ausgesetzte Abkommen zum Export von Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer einsteigen will. Dank der Vermittlung der Türkei habe die Ukraine zugesichert, den Seekorridor nicht für Kampfhandlungen gegen Russland zu nutzen, teilte das Verteidigungsministerium am Mittwoch in Moskau mit. Es habe notwendige schriftliche Garantien der Ukraine gegeben, den eingerichteten humanitären Korridor und die Häfen nur für die Ausfuhr von Lebensmitteln zu nutzen.Die Transporte würden noch am Mittwoch fortgesetzt, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Bericht: Russische Militärs diskutierten Atomwaffeneinsatz
Wie frustriert russische Generäle über den Misserfolg in der Ukraine sind, soll einem Bericht der "New York Times" zufolge die Diskussion über den Einsatz taktischer Atomwaffen zeigen. Die Zeitung berichtete am Mittwoch unter Berufung auf nicht näher genannte US-Amtsträger, ranghohe russische Militärangehörige hätten darüber gesprochen, wann und wie Moskau womöglich eine taktische Atomwaffe in der Ukraine einsetzen könnte. Russlands Präsident Wladimir Putin sei in die Diskussionen nicht eingebunden gewesen.
Und es gebe nach wie vor keine Hinweise, dass Moskau tatsächlich Schritte in diese Richtung unternehme, zitierte das Blatt die Amtsträger weiter. Die Information, dass auf hoher Ebene des Militärs darüber gesprochen worden sei, habe bei der US-Regierung und anderen Verbündeten dennoch Besorgnis ausgelöst, hieß es weiter.
USA: Nordkorea liefert heimlich Artilleriegeschosse an Russland
Die US-Regierung warf Nordkorea vor, Russland im Krieg gegen die Ukraine heimlich mit Militärausrüstung zu unterstützen. Nordkorea versuche die Lieferungen von Artilleriegeschossen über andere Länder etwa im Nahen Osten zu verschleiern, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Mittwoch. "Wir werden weiterhin beobachten, ob die Lieferungen tatsächlich ankommen."
Es handle sich um eine "beträchtliche Zahl". Die US-Regierung gehe aber nicht davon aus, dass diese Lieferungen den Verlauf des Krieges beeinflussen könnten, so Kirby weiter. Die Lieferungen zeigten nicht nur, wie sehr Nordkorea bereit sei, Russland zu unterstützen. Es sei auch ein Zeichen für Russlands Mangel an militärischer Ausrüstung.
Moskau verstärkt militärische Zusammenarbeit mit Minsk
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu bekräftigte unterdessen bei einem Besuch in Minsk das Ziel einer engen militärischen Zusammenarbeit mit Belarus. Der Aufbau eines gemeinsamen Verteidigungsraums sei besonders wichtig mit Blick auf die sich verschärfende Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, sagte Schoigu am Mittwoch bei einem Treffen mit seinem Kollegen Viktor Chrenin. Russland hatte zuletzt Tausenden Soldaten, Panzer und schwere Militärtechnik nach Belarus verlegen lassen - an die Grenze zur Ukraine. Die Regierung in Kiew sieht auch Belarus als Kriegspartei, weil das Land russischen Truppen seine Militärbasen für Angriffe auf die Ukraine überlassen hatte.
Baerbock will engere Kooperation mit Zentralasien
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock machte sich unterdessen bei einem Besuch in der usbekischen Stadt Samarkand am Mittwoch für eine engere Kooperation mit Usbekistan und Kasachstan stark, um eine stärkere Unabhängigkeit von China und Russland zu erreichen. Es gebe in beiden Ländern ein großes Interesse an einer stärkeren Zusammenarbeit mit Europa, allerdings nicht als komplette Abkehr von China und Russland, sagte die Grünen-Politikerin.
Baerbock wollte noch am Nachmittag (Ortszeit) zurück nach Deutschland reisen, um dort am Donnerstag und Freitag das Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der G7-Länder wirtschaftsstarker Demokratien zu leiten. Auch dort soll es angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine um eine stärkere Unabhängigkeit von Russland und China etwa bei Energiethemen und Bodenschätzen gehen./mau/DP/nas