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KIEW/ISTANBUL (dpa-AFX) - Trotz der Aussetzung des Getreideabkommens durch Russland gehen die Exporte aus der Ukraine über das Schwarze Meer vorerst weiter. Nach Angaben der Vereinten Nationen liefen zwölf Schiffe aus ukrainischen Häfen aus und zwei steuerten die Ukraine an, um Lebensmittel zu laden. Sie fahren damit ohne Zustimmung Russlands durch einen Seekorridor, der laut Abkommen nicht angegriffen werden darf - der Kreml will das aber nicht akzeptieren.
Unterdessen beschoss Russland im morgendlichen Berufsverkehr wieder zahlreiche ukrainische Städte mit Raketen - darunter die Hauptstadt Kiew. Im ganzen Land gab es Luftalarm, die ukrainische Flugabwehr war aktiv, wie die dortigen Behörden mitteilten. Bei den Angriffen wurde erneut wichtige Infrastruktur getroffen. Tote oder Verletzte wurden zunächst nicht gemeldet. Russland hatte erklärt, besonders die Energie-Infrastruktur des Nachbarlands ins Visier zu nehmen. Die Ukraine sprach von "Energieterror".
Die Vereinbarung über ukrainische Getreideexporte war im Juli von den Vereinten Nationen (UN) und der Türkei vermittelt worden. Russland hatte sie am Samstag ausgesetzt und dies mit ukrainischen Drohnenangriffen auf seine Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim begründet. Auf Grundlage der bisherigen Vereinbarungen werden die Frachter zunächst von ukrainischen Schiffen durch vermintes Gebiet in internationale Gewässer gelotst. Dann fahren sie weiter in den vereinbarten Seekorridor. Auch an den Exporten beteiligte Häfen dürfen laut Abkommen nicht angegriffen werden. Die UN, Ankara und Kiew hatten sich am Sonntag darauf geeinigt, die Transporte auch ohne Mitwirkung Russlands fortzusetzen.
UN: Getreideabkommen bleibt in Kraft
Nach Lesart der Vereinten Nationen kann der Export trotz der von Russland angekündigten Aussetzung des Abkommens weitergehen. "Unser Verständnis ist, dass Initiative und Verpflichtungen auch während der Aussetzung der Teilnahme Russlands in Kraft bleiben", sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Montag bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates in New York. Es blieb zunächst unklar, ob die Vereinten Nationen den Export der Getreidelieferungen auch auf lange Sicht ohne Russlands Teilnahme fortführen wollen.
Russland: Können ungehinderte Durchfahrt von Schiffen nicht erlauben
Russland will die Fortsetzung der Exporte über das Schwarze Meer nicht zulassen. Die Vereinbarung könne "nicht ohne uns umgesetzt werden", sagte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja bei Sitzung des UN-Sicherheitsrates in New York. Gleichzeitig könne Moskau "eine ungehinderte Passage von Schiffen ohne unsere Inspektion nicht zulassen", sagte Nebensja.
Russland hatte zuletzt mit einem Ausstieg aus der Vereinbarung gedroht, weil es seine eigenen Getreide- und Düngerausfuhren nicht genügend gefördert sah. Als Grund wählte es nun den Angriff auf die Schwarzmeerflotte. Allerdings zeigte diese Attacke, wie verwundbar die russische Marine selbst in einem ihrer wichtigsten Häfen ist. Moskau störte den Schiffsverkehr im Getreidekorridor zunächst nicht.
Die Vereinten Nationen stellten die von Moskau genannten Gründe für die Aussetzung des Getreideabkommens in Frage. "Wenn sich Schiffe der Initiative nicht in dem Gebiet befinden, hat der Korridor keinen besonderen Status. Er bietet weder Deckung noch Schutz für offensive oder defensive Militäraktionen. Er kann nicht als Schild oder Versteck verwendet werden. Es ist auch keine No-Go-Zone", sagte UN-Nothilfekoordinator Griffiths bei der Sitzung in New York.
Ankara: Aussetzung von Abkommen nutzt niemandem
Die Türkei will weiter vermitteln, um das Abkommen zu retten. Verteidigungsminister Hulusi Akar telefonierte am Montag mit seinem russischen Kollegen Sergej Schoigu. Akar bat Moskau, die Entscheidung zur Aussetzung noch einmal zu überdenken, teilte sein Ministerium mit. Akar sei auch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Olexij Resnikow in Kontakt. "Die Aussetzung dieser Initiative wird niemandem etwas nutzen", betreffe aber die ganze Menschheit, so Akar.
Die Schiffe auf dem Weg von oder in ukrainische Häfen wurden bisher in einem gemeinsamen Koordinierungszentrum in Istanbul kontrolliert - durch Teams aus ukrainischen, russischen, türkischen und UN-Vertretern. Ab Montag sollten nur noch Vertreter der UN und der Türkei kontrollieren. Die Ukraine stimmte dem zu. Die russischen Vertreter seien davon in Kenntnis gesetzt worden, hieß es. Die Aussetzung des Abkommens durch Russland soll auch beim Treffen der Außenminister der G7-Gruppe in Münster ab Donnerstag Thema werden.
Millionen Tonnen über alternative Korridore exportiert
Mehr als 14 Millionen Tonnen Agrargüter aus der Ukraine wurden nach EU-Angaben bislang über Handelswege exportiert, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs ausgebaut worden waren. Hinzu kommen 15 Millionen Tonnen an Gütern, die nicht aus dem Landwirtschaftssektor stammen, wie ein Sprecher der Brüsseler Behörde sagte. Als Beispiele nannte er Eisen und Stahl. Die sogenannten Solidaritätskorridore waren im Mai eingerichtet worden. Dahinter steckt vor allem ein Konzept, bestehende Handelswege über Land auszuweiten, um Alternativen zu Ausfuhren über das Schwarze Meer zu etablieren.
Kiew teils ohne Wasserversorgung nach Raketentreffer
Nach russischen Raketentreffern auf die Energieversorgung der ukrainischen Hauptstadt waren dort am Montagabend immer noch rund 250 000 Wohnungen ohne Strom. Bürgermeister Vitali Klitschko teilte mit, in 40 Prozent der Verbrauchsstellen gebe es noch kein Wasser. Damit hat sich die Lage gegenüber dem Morgen gebessert, als noch 80 Prozent der Anschlüsse kein Wasser hatten. In rund 350 000 Wohnungen war der Strom ausgefallen. Klitschko erwartete eine weitere Stabilisierung der Lage in den späteren Abendstunden.
Die Angriffe mit mehr als 50 Marschflugkörpern und Raketen hatten nach ukrainischen Angaben auf sieben Gebiete gezielt, darunter Charkiw, Saporischschja und Kirowohrad. 44 der Geschosse konnten demnach abgefangen werden. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.
Russisches Raketenteil trifft Dorf in Republik Moldau
Bei den Luftangriffen auf die Ukraine stürzten Teile einer abgeschossenen russischen Rakete in ein grenznahes Dorf im Norden der Republik Moldau, wie das Innenministerium mitteilte. In einigen Häusern des Ortes Naslavcea seien Fenster geborsten, Verletzte gebe es nach ersten Erkenntnissen nicht. Nach ukrainischen Militärangaben sollte die russische Rakete das etwa zehn Kilometer entfernte Wasserkraftwerk am Fluss Dnister bei Nowodnistrowsk treffen. Die ukrainische Luftabwehr habe die Rakete im Anflug abgeschossen./mau/DP/he