NEW YORK (dpa-AFX) - 2022 ist ein Jahr zum Vergessen für Investoren am US-Aktienmarkt. Rasante Leitzinserhöhungen der US-Notenbank Fed zogen die Bewertungen nach unten, vor allem zuvor hochgejubelte Techwerte rutschten ab. Hinzu kam die Eskalation des Konfliktes um die Ukraine mit der Invasion durch Russland und der Gegenwind für die Weltwirtschaft durch die strikte Corona-Politik Chinas. Glaubt man Experten, dürfte die Kurserholung gegen Ende 2022 schon bald vorbei sein. Sie rechnen mit einem schwachen Start ins Börsenjahr 2023, bevor sich die Perspektiven aufhellen.

Die Kehrtwende der Fed erwischte - obwohl sie sich schon Ende 2021 abgezeichnet hatte - viele Investoren auf dem falschen Fuß. Sie erinnert an die Fed der 1980er, die unter Paul Volcker im letztendlich erfolgreichen Ringen gegen eine zu hohe Inflation die Wirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt hatte.

Sorgen, dass sich diese Entwicklung rund 40 Jahre später wiederholt, trieben die Investoren aktuell um, erklärt Marktstratege Michael Wilson von der US-Bank Morgan Stanley. Gleichzeitig fürchteten sie aber auch, dass die Fed nicht stark genug auf die Zinsbremse tritt und die Aktienbewertungen damit ähnlich unter Druck geraten wie in den 1970ern. Das Jahrzehnt war geprägt von hoher Inflation und in der ersten Hälfte von einer schwachen Entwicklung des breit gefassten S&P-500-Index.

Diese Ängste der Anleger ließen 2022 den S&P 500 bis kurz vor Weihnachten um rund 19 Prozent absacken, und das trotz einer Erholung um gut 11 Prozent seit Mitte Oktober. Allerdings war der Index in den vergangenen drei Jahren - auch dank der Billiggeldpolitik der Notenbanken - jeweils deutlich gestiegen und hatte insgesamt 90 Prozent zugelegt. Techwerte hatten in den drei Jahren noch mehr Auftrieb. So war es für den Nasdaq 100 in Summe um mehr als 150 Prozent nach oben gegangen. Gerade in der Corona-Pandemie waren Online-Werte stark gefragt, egal ob die Unternehmen Geld verdienten oder nicht. Entsprechend scharf fiel die Korrektur 2022 aus: Der Nasdaq 100 fiel bislang um 31 Prozent. Der US-Leitindex Dow Jones Industrial hielt sich mit minus 8 Prozent besser.

Eine weitere Eskalation der geopolitischen Probleme ausgeklammert, stehen also die Folgen der Zinserhöhungen durch die Fed 2023 im Fokus. "Die entscheidende Frage ist, ob es tatsächlich zu einer Rezession kommt oder sich die Hoffnung aller Zentralbanker auf eine 'weiche Landung' erfüllt, bei der sich die Inflation auf das Zielniveau zubewegt, ohne dass es zu einem erheblichen Rückgang der Produktion und einem wesentlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt", sagt Chefökonom Shamik Dhar von Vermögensverwalter BNY Mellon Investment Management.

Jedoch führt eine anhaltend hohe Inflation laut Dhar fast immer zu einer Rezession. Das letzte Mal, dass die US-Wirtschaft bei einer so hohen Teuerungsrate wie aktuell einen Wirtschaftsabschwung vermeiden konnte, sei in den 1950er Jahren gewesen. Dhar rechnet daher damit, dass Anfang 2023 eine weltweite Rezession ansteht, "die durch die rasche Anhebung der US-Leitzinsen ausgelöst" wird.

Pessimistisch sind auch die Marktstrategen der US-Bank JPMorgan. Trotz aller Probleme seien die wirtschaftlichen Fundamentaldaten 2022 robust geblieben, doch dürfte sich das 2023 angesichts einer Verschärfung der Finanzierungsbedingungen im Zuge einer noch strikteren Fed-Politik ändern. Die Gewinnerwartungen für die Unternehmen hätten gerade erst begonnen zu sinken, erklärt Morgan-Stanley-Experte Wilson vor diesem Hintergrund.

In diesem schwächeren Konjunkturumfeld dürfte die Fed dann die Zinsen letztlich zu sehr anziehen und die Börsen auf Talfahrt schicken, erklären die JPMorgan-Experten. Der S&P 500 werde wohl in der ersten Hälfte 2023 nochmals sein Jahrestief von 2022 testen. Das hatte er Mitte Oktober bei knapp 3500 Punkten erreicht. Ausgehend vom aktuellen Kursniveau wäre das ein Minus von rund zehn Prozent.

Solch ein Ausverkauf in Kombination mit einer steigenden Arbeitslosigkeit und trüben Unternehmensstimmung dürfte die Fed dann laut JPMorgan aber dazu bewegen, ein Ende der Zinserhöhungen anzukündigen. Das werde eine Erholung der Aktienmärkte einleiten. Die Strategen sehen den S&P 500 Ende 2023 denn auch bei 4200 Punkten.

Damit sind sie optimistischer als Michael Wilson von Morgan Stanley. Der rechnet zwar auch mit einem schwachen Start ins Börsenjahr 2023 und einer Erholung zum Jahresende hin. Er sieht den S&P 500 letztlich mit dann 3900 Punkten aber nur knapp über dem aktuellen Niveau. Dabei verweist er auch auf die zunehmend multipolare Welt mit einer Reihe von Ländern, die Führungsanspruch erheben. Durch zunehmende Handelsbeschränkungen - wie die Tech-Exportverbote der USA gegenüber China - stellten sich die globalen Lieferketten um, die Kosten für Unternehmen stiegen strukturell. In einer solchen Welt stiegen auch die Risikoprämien für Aktien, so Wilson. Höhere Risikoprämien bedeuten aber tiefere Kurse unter sonst gleichen Umständen.

Im Durchschnitt sehen die 23 von der Nachrichtenagentur Bloomberg erfassten Marktstrategen verschiedener Banken den S&P 500 Ende 2023 bei 4078 Punkten./mis/ag/jha/

- von Michael Schilling, dpa-AFX -