Neokeynesianismus Börsenlexikon Vorheriger Begriff: Verhaltensökonomik Nächster Begriff: Keynesianische Wirtschaftspolitik
Eine realistische Erklärung für Marktunvollkommenheiten, Preisrigiditäten und die Bedeutung der Geld- und Fiskalpolitik
Der Neokeynesianismus ist eine wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung, die sich aus den Theorien von John Maynard Keynes entwickelt hat. Er kombiniert zentrale Elemente der keynesianischen Makroökonomie mit neoklassischen Ansätzen, insbesondere im Bereich der Mikroökonomie. Ziel des Neokeynesianismus ist es, die Schwächen der ursprünglichen keynesianischen Theorie zu überwinden und eine fundierte Erklärung für wirtschaftliche Schwankungen, Inflation und Arbeitslosigkeit zu liefern.
Der Neokeynesianismus wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, insbesondere durch Ökonomen wie John Hicks, Paul Samuelson, Robert Solow und Edmund Phelps. Ihre Arbeiten beeinflussen bis heute die Geld- und Fiskalpolitik vieler Staaten und bilden die Grundlage für zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen.
Entstehung des Neokeynesianismus
Die ursprüngliche keynesianische Theorie, die Keynes in seinem Werk „The General Theory of Employment, Interest and Money“ (1936) formulierte, stellte die klassische Vorstellung infrage, dass Märkte sich selbst regulieren. Keynes argumentierte, dass Nachfrageausfälle zu wirtschaftlichen Krisen und Arbeitslosigkeit führen können und dass der Staat durch Fiskalpolitik (z. B. Konjunkturprogramme) die Wirtschaft stabilisieren müsse.
In den 1950er und 1960er Jahren entwickelte sich der Neokeynesianismus als Reaktion auf zwei Herausforderungen:
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Integration mikroökonomischer Grundlagen in die Makroökonomie
- Keynes’ Theorie wurde als makroökonomisches Modell formuliert, ohne auf mikroökonomische Entscheidungsprozesse von Haushalten und Unternehmen einzugehen.
- Neokeynesianer versuchten, eine mikrofundierte Makroökonomie zu schaffen, die individuelle Rationalität mit gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen verbindet.
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Antwort auf monetaristische Kritik
- In den 1970er Jahren kritisierten Monetaristen wie Milton Friedman die keynesianische Wirtschaftspolitik.
- Sie argumentierten, dass langfristig Inflation und nicht Beschäftigung durch Geldpolitik beeinflusst wird.
- Der Neokeynesianismus integrierte Elemente der Geldpolitik in seine Modelle, um die Kritik der Monetaristen zu berücksichtigen.
Zentrale Annahmen des Neokeynesianismus
Die neokeynesianische Theorie basiert auf mehreren Grundprinzipien:
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Unvollkommene Märkte (Marktversagen)
- Im Gegensatz zur Neoklassik geht der Neokeynesianismus davon aus, dass Märkte nicht immer effizient funktionieren.
- Ursachen für Marktversagen: Preis- und Lohnstarrheiten, asymmetrische Informationen und monopolistische Strukturen.
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Preis- und Lohnrigiditäten
- Löhne und Preise passen sich nicht sofort an Angebots- und Nachfrageveränderungen an.
- Beispiel: In einer Rezession sinken Löhne nicht automatisch, weil Gewerkschaften und Arbeitsverträge dies verhindern.
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Geldpolitik hat reale Effekte
- In der kurzen Frist kann Geldpolitik Produktion und Beschäftigung beeinflussen, da Preise und Löhne nicht flexibel sind.
- Zentralbanken können daher durch Zinssenkungen die Wirtschaft ankurbeln.
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Fiskalpolitik als Stabilisierungsmittel
- In Krisenzeiten kann der Staat durch Steuersenkungen und höhere Ausgaben die Nachfrage stimulieren.
- Besonders in Situationen, in denen Geldpolitik nicht mehr wirkt (Liquiditätsfalle), ist staatliches Eingreifen notwendig.
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Phillips-Kurve und Inflationserwartungen
- Neokeynesianer modifizierten die klassische Phillips-Kurve, die einen kurzfristigen Trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beschreibt.
- Langfristig erkennen Haushalte und Unternehmen jedoch Inflationserwartungen und passen ihre Entscheidungen an, wodurch der Effekt abnimmt.
Wichtige Modelle des Neokeynesianismus
Der Neokeynesianismus entwickelte mehrere zentrale wirtschaftswissenschaftliche Modelle:
1. IS-LM-Modell (John Hicks & Alvin Hansen)
- Beschreibt das Gleichgewicht zwischen Gütermarkt (IS-Kurve) und Geldmarkt (LM-Kurve).
- Zeigt, wie Fiskal- und Geldpolitik die Gesamtwirtschaft beeinflussen können.
- Wird oft zur Analyse von Konjunkturmaßnahmen verwendet.
2. Phillips-Kurve (Modifizierte Version von Samuelson & Solow)
- Zeigt den kurzfristigen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit.
- Wurde später von Monetaristen um eine langfristige natürliche Arbeitslosenquote ergänzt.
3. Neokeynesianische Wachstumstheorie (Robert Solow)
- Erweitert das klassische Wachstumsmodell durch technische Innovationen als Wachstumstreiber.
- Zeigt, dass Investitionen in Humankapital, Bildung und Technologie langfristig entscheidend für Wachstum sind.
4. New Keynesian Economics (1980er Jahre, Gregory Mankiw & David Romer)
- Weiterentwicklung des Neokeynesianismus mit stärkerer mikroökonomischer Fundierung.
- Betrachtet explizit asymmetrische Information, Menü-Kosten und irrationales Verhalten.
Neokeynesianismus vs. Neoklassik
Während die Neoklassik davon ausgeht, dass Märkte effizient sind und sich selbst regulieren, betont der Neokeynesianismus, dass Marktunvollkommenheiten wirtschaftliche Krisen verursachen können.
Merkmal | Neokeynesianismus | Neoklassik |
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Marktmechanismen | Unvollkommene Märkte, Marktversagen möglich | Märkte sind effizient und regulieren sich selbst |
Preisanpassung | Preise und Löhne sind starr | Preise passen sich flexibel an |
Geldpolitik | Kann kurzfristig Wachstum und Beschäftigung beeinflussen | Langfristig nur Inflationseffekt |
Fiskalpolitik | Notwendig zur Stabilisierung der Konjunktur | Staatseingriffe meist überflüssig oder schädlich |
Arbeitslosigkeit | Kann durch staatliche Maßnahmen gesenkt werden | Resultat freiwilliger Entscheidungen und Marktgleichgewichte |
Kritik am Neokeynesianismus
Trotz seiner weitreichenden Anwendung gibt es Kritik am Neokeynesianismus:
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Langfristige Wirkungen von Staatsausgaben
- Kritiker (v. a. Monetaristen und Vertreter der Österreichischen Schule) argumentieren, dass hohe Staatsausgaben langfristig zu Inflation und Schuldenkrisen führen können.
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Rational Expectations Hypothesis (Robert Lucas)
- Lucas und andere Vertreter der Neuen Klassischen Makroökonomie behaupten, dass Menschen rationale Erwartungen bilden und daher staatliche Eingriffe langfristig ineffektiv sind.
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Unterschätzung von Angebotsfaktoren
- Der Neokeynesianismus konzentriert sich stark auf Nachfrageseite, vernachlässigt jedoch Angebotsschocks (z. B. Ölkrisen, technologische Innovationen).
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Problem der politischen Anreize
- Politiker könnten keynesianische Maßnahmen nutzen, um kurzfristig Wähler zu gewinnen, ohne langfristige Nachhaltigkeit zu beachten.
Fazit
Der Neokeynesianismus verbindet die klassischen Erkenntnisse von Keynes mit moderner Mikroökonomie und Marktanalysen. Er bietet eine realistische Erklärung für Marktunvollkommenheiten, Preisrigiditäten und die Bedeutung der Geld- und Fiskalpolitik.
Obwohl er Kritik von Monetaristen und der Neuen Klassik erfährt, bleibt der Neokeynesianismus eine der einflussreichsten Wirtschaftstheorien und prägt bis heute die Geldpolitik von Zentralbanken, staatliche Konjunkturmaßnahmen und wirtschaftliche Steuerung in Krisenzeiten.