Hiba (Schenkung) Börsenlexikon Vorheriger Begriff: Waqf-Konzept (Stiftungswesen) Nächster Begriff: Qard Hasan (zinsfreies Darlehen)
Ein tief in der islamischen Ethik und Rechtsprechung verankerter Vertragstyp, der freiwillige Schenkungen rechtlich absichert und zugleich spirituell adelt
Hiba ist ein zentraler Begriff im islamischen Vertrags- und Vermögensrecht und bezeichnet die freiwillige, unentgeltliche Schenkung von Eigentum zu Lebzeiten des Schenkenden an eine andere Person. Im Gegensatz zu Erbschaften, die erst mit dem Tod des Erblassers wirksam werden, erfolgt die Hiba unmittelbar und mit vollständiger Übertragung von Besitz und Eigentum. Sie ist ein wichtiges Instrument zur Vermögensverteilung, sozialen Absicherung und zwischenmenschlichen Solidarität im islamischen Kulturkreis und kann auch im Finanzwesen eine Rolle spielen, insbesondere im Kontext von familiärer Vermögensplanung, Steuervermeidung (im rechtlichen Rahmen) oder als Teil wohltätiger Handlungen.
Begriffliche und rechtliche Einordnung
Der Begriff „Hiba“ (arabisch: هبة) bedeutet „Geschenk“ oder „Schenkung“. Im islamischen Recht wird Hiba als zweiseitiger Vertrag verstanden, bei dem eine Person (der Schenkende, Wahib) einem anderen (dem Beschenkten, Mawhub lahu) Vermögen oder einen Vermögensgegenstand überträgt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Hiba ist in der islamischen Jurisprudenz (Fiqh) aller vier sunnitischen Rechtsschulen (Hanafi, Maliki, Shafi'i, Hanbali) anerkannt, wenngleich es unterschiedliche Detailregelungen bezüglich Gültigkeit, Rücknahme und Formvorschriften gibt.
Die Gültigkeit einer Hiba setzt folgende Voraussetzungen voraus:
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Freiwilligkeit: Die Schenkung muss ohne Zwang oder Druck erfolgen.
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Eigentum: Der Schenkende muss rechtlich und tatsächlich Eigentümer des geschenkten Gegenstands sein.
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Zurechnungsfähigkeit: Beide Parteien müssen geschäftsfähig sein.
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Gegenstand: Der geschenkte Vermögensgegenstand muss bestimmbar, legal und übertragbar sein.
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Besitzübergang (Qabd): In den meisten Rechtsschulen ist der physische oder rechtliche Besitzübergang Voraussetzung für die Rechtsgültigkeit der Hiba.
Arten von Hiba
Im islamischen Recht existieren verschiedene Formen von Hiba, die sich in Zielsetzung und Wirkung unterscheiden:
Hiba mutlaqah (unbedingte Schenkung)
Diese Form ist die häufigste: Der Schenkende überträgt den Besitz vollständig und ohne Bedingungen. Der Beschenkte kann frei über das Geschenk verfügen.
Hiba mu'allaqah (bedingte Schenkung)
Die Hiba ist an eine Bedingung oder einen zukünftigen Eintritt eines Ereignisses geknüpft, z. B. eine Heirat, ein Studienabschluss oder ein bestimmter Feiertag. Nach überwiegender Meinung ist eine solche Hiba problematisch, da Schenkungen grundsätzlich sofort wirksam werden müssen.
Hiba bil 'iwad (Schenkung mit Gegenleistung)
Hierbei erfolgt die Schenkung zwar freiwillig, aber in Erwartung einer (nicht vertraglich fixierten) Gegenleistung. In einigen Rechtsschulen wird diese Form wie ein Verkauf behandelt, insbesondere wenn die Gegenleistung den Wert des Geschenks annähert.
Hiba fi maradh al-maut (Schenkung im Todeskrankenstand)
Schenkungen, die ein Mensch im Zustand einer tödlichen Krankheit tätigt, unterliegen besonderen Einschränkungen. Sie dürfen ein Drittel des Vermögens nicht überschreiten, sofern keine Zustimmung der gesetzlichen Erben vorliegt. Dies dient dem Schutz der Erbansprüche.
Hiba und Erbrecht
Hiba hat eine enge Beziehung zum islamischen Erbrecht (Faraid), da durch Schenkungen zu Lebzeiten die Vermögensverteilung nach dem Tod beeinflusst werden kann. Aus diesem Grund bestehen gewisse ethische und rechtliche Schranken:
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Eine gezielte Benachteiligung oder Ausschließung gesetzlicher Erben durch vorgezogene Schenkungen wird als unislamisch angesehen.
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Nach einigen Rechtsschulen (z. B. der Hanafi-Schule) ist eine Gleichbehandlung unter Kindern in der Schenkungspflicht des Vaters empfohlen, wenn auch nicht zwingend.
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Der Prophet Muhammad soll in einem Hadith gesagt haben:
„Behandelt eure Kinder gleich bei Geschenken.“
(Hadith, Sahih al-Bukhari)
Steuerliche und finanzielle Bedeutung
In modernen Kontexten spielt die Hiba auch eine Rolle in steuerlicher, finanzieller und vermögensplanerischer Hinsicht:
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Vermögensübertragungen zu Lebzeiten: Durch frühzeitige Schenkungen können spätere Erbauseinandersetzungen vermieden und der Aufbau wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Nachkommen gefördert werden.
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Schenkungssteuer: In nicht-islamischen Ländern kann Hiba steuerpflichtig sein. Muslime, die Hiba nutzen, müssen sich an die dortige Rechtsordnung halten.
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Wohltätige Zwecke: Hiba kann auch an wohltätige Institutionen oder zur Gründung eines Waqf erfolgen.
Mathematisches Beispiel einer Hiba
Ein Vater möchte seinem Sohn eine Eigentumswohnung im Wert von 250.000 EUR schenken. Er überträgt rechtlich das Eigentum und den Besitz an den Sohn, ohne Gegenleistung.
Vermögensveränderung:
Aus islamischer Sicht ist dies eine gültige Hiba, sofern alle Voraussetzungen erfüllt sind. Aus staatlicher Sicht könnte zusätzlich eine Schenkungssteuer anfallen.
Hiba im Vergleich zu verwandten Konzepten
Merkmal | Hiba (Schenkung) | Sadaqa (Almosen) | Zakat (Pflichtabgabe) |
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Verpflichtung | Freiwillig | Freiwillig | Verpflichtend (2,5 %) |
Empfänger | Beliebig | Bedürftige | Bestimmte Empfängergruppen |
Höhe | Beliebig | Beliebig | Gesetzlich festgelegt |
Zeitpunkt | Jederzeit | Jederzeit | Nach Ablauf eines Mondjahres |
Rechtliche Wirkung | Vertraglich bindend | Spendencharakter | Religiös-rechtlich verpflichtend |
Rücknahme der Hiba
Ein kontroverses Thema im islamischen Recht ist die Frage, ob eine Schenkung widerrufen werden darf. Die Meinungen dazu variieren:
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Nach hanafitischer Lehre ist eine Rücknahme grundsätzlich erlaubt, es sei denn, es handelt sich um Geschenke an die eigenen Kinder oder zwischen Ehepartnern.
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Die malikitische und schafiitische Schule sehen die Rücknahme grundsätzlich als unzulässig an.
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In einem Hadith heißt es:
„Derjenige, der eine Schenkung zurücknimmt, ist wie jemand, der sein eigenes Erbrochenes isst.“
(Sahih al-Bukhari)
Daraus ergibt sich ein starkes ethisches Gebot, freiwillig gegebene Hiba nicht zurückzufordern.
Bedeutung in der islamischen Gesellschaft
Hiba erfüllt eine wichtige soziale und spirituelle Funktion:
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Stärkung familiärer Bande: Schenkungen innerhalb der Familie dienen der Versorgung und Unterstützung.
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Solidarität mit Bedürftigen: Reiche Gläubige können durch Hiba zur sozialen Gerechtigkeit beitragen.
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Spiritualität: Freiwilliges Geben wird im Islam hoch geschätzt und mit großer Belohnung verbunden.
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Flexibilität in der Vermögensverteilung: Hiba bietet einen rechtssicheren Rahmen zur Gestaltung wirtschaftlicher Verantwortung zu Lebzeiten.
Fazit
Hiba ist ein tief in der islamischen Ethik und Rechtsprechung verankerter Vertragstyp, der freiwillige Schenkungen rechtlich absichert und zugleich spirituell adelt. Sie dient nicht nur der individuellen Großzügigkeit, sondern auch der familiären Vorsorge, sozialen Umverteilung und Förderung wohltätiger Zwecke. Durch klare Voraussetzungen, ethische Leitlinien und praktische Anwendbarkeit ist Hiba ein vielseitiges Instrument im islamischen Vermögensrecht. In einer zunehmend verrechtlichten und ökonomisierten Welt bietet Hiba eine religiös fundierte, menschennahe Alternative zur herkömmlichen Vermögensverfügung – und bleibt damit ein lebendiges Element islamischer Finanz- und Sozialkultur.