Herdentrieb Börsenlexikon Vorheriger Begriff: Floyd Mayweather Jr. (Centra Tech, 2018) Nächster Begriff: Krypto-Hausse und -Korrektur (2020-2022)
Ein tief verankertes, menschliches Verhaltensmuster, das auch auf den Finanzmärkten wirksam wird
Der Begriff Herdentrieb (auch „Herdenverhalten“ oder im Englischen herding behavior) beschreibt in der Finanzwelt das Phänomen, dass Anleger ihre Entscheidungen nicht primär auf Basis eigener Analysen oder objektiver Informationen treffen, sondern sich stark an dem Verhalten anderer Marktteilnehmer orientieren. Dieses kollektive Verhalten kann in bestimmten Marktsituationen zu überzogenen Kursbewegungen, Spekulationsblasen oder Marktpaniken führen und stellt somit eine bedeutende Abweichung vom Idealbild des rationalen Investors in der klassischen Finanztheorie dar.
Der Herdentrieb ist ein Konzept aus der Verhaltensökonomik (Behavioral Finance) und wird als eine der zentralen kognitiven Verzerrungen (Biases) angesehen, die Märkte ineffizient machen können. Er tritt sowohl bei institutionellen als auch bei privaten Anlegern auf und spielt eine besondere Rolle in Phasen hoher Unsicherheit oder starker medialer Präsenz.
Grundlagen und Ursachen des Herdentriebs
Der Herdentrieb basiert auf psychologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren, die sich gegenseitig verstärken können. Zu den wichtigsten Ursachen zählen:
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Informationsmangel und Unsicherheit
Wenn Anleger über keine ausreichenden Informationen verfügen oder sich mit einer unsicheren Marktlage konfrontiert sehen, orientieren sie sich an den Handlungen anderer, die sie als besser informiert oder erfahrener einschätzen. -
Sozialer Druck und Konformität
Menschen neigen dazu, sich in sozialen Gruppen anzupassen, um Anerkennung zu erhalten oder Ablehnung zu vermeiden. Dieses Verhalten überträgt sich auch auf den Finanzmarkt. -
Reputationsrisiken
Vor allem bei institutionellen Investoren kann es zur Herdenbildung kommen, weil ein Abweichen von der Masse – und damit auch von der Benchmark – mit dem Risiko verbunden ist, sich im Nachhinein rechtfertigen zu müssen. -
Relative Performanceziele
Viele Anleger und Fondsmanager orientieren sich nicht am absoluten Gewinn, sondern am Vergleich mit dem Markt oder der Konkurrenz. Dies begünstigt das Nachahmen dominanter Anlagestrategien. -
Medien und soziale Netzwerke
In der heutigen digitalen Finanzwelt verstärken virale Trends, Nachrichten oder Influencer-Empfehlungen (Finfluencer) das kollektive Verhalten. Stichworte sind hier: Meme-Aktien, Krypto-Hype oder Flash-Mobs wie bei der GameStop-Aktie.
Formen des Herdentriebs
Herdentrieb kann auf verschiedene Weise auftreten, insbesondere in folgenden Varianten:
- Kaufpaniken (Buying Frenzy): Anleger springen auf einen positiven Trend auf, um vermeintliche Gewinne nicht zu verpassen (FOMO – Fear of Missing Out).
- Verkaufspaniken (Panic Selling): Bei Kursverlusten verkaufen Anleger reflexartig, weil andere dies ebenfalls tun – oft verstärkt durch Medienberichte.
- Spekulationsblasen: Übertriebene Preissteigerungen durch kollektiven Optimismus und Nachahmung, ohne dass fundamentale Gründe vorliegen (z. B. Dotcom-Blase, Immobilienblase, NFT-Boom).
- Rückzug in „sichere Häfen“: In Krisenzeiten flüchten viele Anleger in als stabil geltende Werte wie Gold oder Staatsanleihen – ebenfalls ein herdenartiges Verhalten.
Mathematische Darstellung: Korrelation und Kovarianz
Herdentrieb lässt sich in quantitativen Modellen zum Teil über Korrelationen im Verhalten darstellen. In der Portfoliotheorie oder bei Risikomodellen kann ein steigender Gleichlauf zwischen den Anlageentscheidungen verschiedener Marktakteure gemessen werden:
Dabei ist:
- die Korrelation zwischen den Renditen und zweier Investoren oder Anlageklassen,
- die Kovarianz der Renditen,
- die Standardabweichung der jeweiligen Rendite.
Ein hoher positiver Wert von kann auf herdenartiges Verhalten hinweisen – insbesondere dann, wenn die Korrelation nicht durch fundamentale Entwicklungen erklärbar ist.
Auswirkungen auf Finanzmärkte
Herdentrieb kann sowohl kurzfristige Marktverzerrungen als auch langfristige Risiken erzeugen:
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Verlust der Markteffizienz
Preise spiegeln nicht mehr den inneren Wert eines Finanzinstruments wider, sondern sind das Ergebnis psychologisch getriebener Überreaktionen. -
Blasenbildung und Crashgefahr
Durch Herdentrieb können sich Assetpreise von ihren Fundamentaldaten entkoppeln, was bei Trendwenden zu plötzlichen Einbrüchen führen kann. -
Fehlallokation von Kapital
Wenn Investoren irrational Kapital in bestimmte Sektoren oder Titel lenken, werden Ressourcen nicht effizient verteilt, was auch realwirtschaftliche Folgen haben kann. -
Volatilitätssteigerung
Märkte werden durch kollektives Verhalten volatiler, da viele Investoren gleichzeitig in dieselbe Richtung handeln und so Kursschwankungen verstärken.
Beispiele aus der Praxis
Einige bekannte historische und aktuelle Fälle verdeutlichen das Wirken des Herdentriebs:
- Dotcom-Blase (1999–2000): Technologiewerte wurden kollektiv überbewertet, obwohl viele Unternehmen keine Gewinne erzielten.
- Finanzkrise (2007–2008): Der gemeinsame Glaube an immer steigende Immobilienpreise führte zu massenhafter Kreditvergabe und riskanten Verbriefungen.
- GameStop (2021): Koordinierter Kaufdruck durch Reddit-Nutzer führte zu exponentiellem Kursanstieg – losgelöst von Unternehmenskennzahlen.
- Krypto-Hausse und -Korrektur (2020–2022): Der starke Anstieg von Bitcoin & Co. wurde in vielen Fällen durch soziale Netzwerke und Herdentrieb getrieben – ebenso der Absturz.
Maßnahmen gegen Herdentrieb
Komplett verhindern lässt sich Herdenverhalten nicht, doch es gibt Instrumente, um seine Auswirkungen zu begrenzen:
- Finanzbildung: Aufklärung über kognitive Verzerrungen und rationale Anlageentscheidungen hilft Anlegern, sich nicht von Emotionen leiten zu lassen.
- Antizyklische Strategien: Fonds und Investoren können bewusst konträr zum Markt agieren, um Übertreibungen auszugleichen.
- Circuit Breakers und Handelsunterbrechungen: Börsenmechanismen, die bei starken Kursbewegungen greifen, können panikartiges Verhalten bremsen.
- Diversifikation: Durch Streuung des Kapitals können individuelle Risiken verringert werden, auch wenn Märkte sich herdenartig bewegen.
Fazit
Der Herdentrieb ist ein tief verankertes, menschliches Verhaltensmuster, das auch auf den Finanzmärkten wirksam wird. Es führt dazu, dass Investoren kollektiv handeln – unabhängig von fundamentalen Daten –, was zu überzogenen Kursbewegungen, Blasen und Crashs führen kann. In einer Zeit, in der soziale Netzwerke und Influencer eine immer größere Rolle spielen, ist das Verständnis dieses Phänomens besonders wichtig. Für stabile und faire Finanzmärkte braucht es deshalb nicht nur technische Regulierungsinstrumente, sondern auch eine bewusste Auseinandersetzung mit psychologischen Mechanismen – sowohl auf Seiten der Anleger als auch der Aufsichtsbehörden.